„Nicht in die Privatsphäre des Kindes eindringen“

Tracking-Apps erlauben, Bewegungsprofile und Handynutzung von Kindern nachzuverfolgen. In unserer Fotomontage zeigen wir einen Screenshot der App „Find my kids“. Foto: Florian Kleinschmidt
Mit zunehmender Digitalisierung wachsen die Möglichkeiten, die eigenen Kinder digital per App zu überwachen. Die Psychologin Ilona Lubitz fordert hingegen Zurückhaltung bei der digitalen Überwachung durch Tracking-Apps. Vertrauen sei keine Einbahnstraße.
Für nur 0,99 € alle Artikel auf goslarsche.de lesen
und im ersten Monat 9,00 € sparen!
Jetzt sichern!
Braunschweig. Mit der zunehmenden Digitalisierung wachsen auch die Möglichkeiten, die eigenen Kinder digital per App zu überwachen. Was macht die digitale Kontrolle mit Kindern? Und was sollten besorgte Eltern tun? Darüber sprachen wir mit der Psychologin Ilona Lubitz. Sie ist Professorin an der Ostfalia Hochschule in Wolfenbüttel. Ihr Spezialgebiet ist die Entwicklung über die Lebensspanne.

Ilona Lubitz, Psychologin
Besonders bedenklich finde ich Apps, die eine Rundum-Überwachung erlauben, wie etwa „Find My kids“. Diese Anwendung zeigt nicht nur, wo sich das Kind aufhält, man kann auch verfolgen, was es mit dem Smartphone macht, mit wem es kommuniziert, wie lange es welche Apps nutzt. Man bekommt sogar Mitteilungen, wenn der Akkustand des Geräts vom Kind auf 10 Prozent sinkt. Ich sehe das extrem kritisch, weil dem Kind signalisiert wird: Ich muss auf alles Acht geben, was du tust, ich traue dir nicht zu, dass du Dinge alleine bewältigst.
Ich stehe dem ambivalent gegenüber. Gott sei Dank verschwinden Kinder nur sehr selten für längere Zeit. Menschen, die ein Kind entführen wollen, kennen diese technischen Möglichkeiten mittlerweile und berücksichtigen das entsprechend. Insofern liefert die Technik nicht die Sicherheit, die man sich von ihr verspricht. Andererseits glaube ich, dass einzelne Funktionen in bestimmten Situationen sinnvoll sein können. Wenn mein Kind überhaupt nicht auftaucht und ich sehr verunsichert bin, kann es Sicherheit geben, zu wissen, wo es sich befindet. Auch ein Aufzeichnen der Smartphone-Nutzung kann hilfreich sein – in erster Linie aber als Rückmeldung an das Kind.
Uns allen fällt es schwer, einzuschätzen, wie viel Zeit wir am Handy verbringen. Eine Nutzungsstatistik ist auch für Kinder eine gute Funktion. Das sollte aber der Selbsteinschätzung dienen, nicht der Kontrolle.
Doch. Eltern sollten darüber informiert sein: Was interessiert mein Kind? Was hat es für einen Freundeskreis? Bei wem hält es sich auf? Dafür muss ich aber nicht in die Privatsphäre des Kindes eindringen. Wenn ich mein Kind minutiös digital verfolge, Gespräche mithöre oder Nachrichten lese, die es an andere schreibt, weil ich das sonst nicht mitbekomme, dann stimmt auf der Eltern-Kind-Ebene etwas nicht.
Extrem wichtig. Tut man es nicht, und das Kind findet zufällig heraus, dass es – ausgerechnet von den eigenen Eltern – überwacht wird, empfindet es das als massiven Vertrauensbruch. Man sollte mit dem Kind immer vorab darüber sprechen. Man sollte ihm vermitteln, dass es um absolute Notfälle geht, und daran muss man sich auch halten. Absprachen gelten immer für beide Seiten. Wenn die Kinder älter werden, kann es Vorteile haben, Apps zu nutzen, die für die ganze Familie geeignet sind. Dann haben auch die Kinder die Möglichkeit, herauszufinden: Wo ist denn meine Mutter? Im Zweifelsfall würde ich aber immer eher versuchen, sich einfach gegenseitig anzurufen oder Kontakt aufzunehmen.
Kinder sind darauf angewiesen, Erfahrungen zu machen und zunehmend Selbstverantwortung für sich und das eigene Leben zu übernehmen. Wenn ich nun aber weiß, dass meine Eltern mich die ganze Zeit überwachen, ist das nicht nur eine Einschränkung der Freiheit. Mir wird auch signalisiert: Selbst meine Eltern trauen mir das eigentlich nicht zu. Eine solche Kontrolle hat einen negativen Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartungen von Kindern.
Ja. Ich denke, man sollte interessiert sein und dem Kind zuhören. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Und: Vertrauen ist keine Einbahnstraße. Ich kann nicht erwarten, dass mein Kind mir traut, mir Dinge offenbart, wenn ich ihm nicht umgekehrt auch Vertrauen entgegenbringe. Und das kommt mir bei diesen Tracking-Apps ein bisschen zu kurz.
Grundsätzlich unterscheiden sich Kinder hier gar nicht stark von Erwachsenen. Wenn Sie sich vorstellen, Ihr Partner kontrolliert Sie die ganze Zeit, dann werden Sie anfangen, Dinge geheim zu halten. Das ist bei Kindern genauso. Sie entziehen sich also eher der Kontrolle. Wenn abweichendes Verhalten dann auch noch ständig problematisiert wird – nach dem Motto: Ich kontrolliere dich und ich sage dir, wie du dich zu verhalten hast – dann halte ich das für besonders schwierig.
Ja, aber ich denke, die Zahl der Eltern, die extrem behütend sind, wächst ebenso wie die Zahl derer, die ihre Kinder vernachlässigen. Die Schere geht sehr weit auseinander. Tatsächlich ist beides für die Entwicklung der Kinder ausgesprochen ungünstig.
Es gibt mehrere Gründe. Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Man will das Kind schützen, es möglicherweise auch einfach vor negativen Erfahrungen bewahren. Aber damit nimmt man dem Kind ganz viele Entwicklungsmöglichkeiten. Ich glaube auch, dass die Angst zugenommen hat – gerade durch die Vielfalt an Medien, in denen über real oder vermeintlich entführte Kinder berichtet wird. Im Internet weiß man oft überhaupt nicht, ob stimmt, was da steht. Früher schaute man einmal am Tag die Tagesschau und las die Zeitung, heute dagegen strömt alles rund um die Uhr auf uns ein. Dadurch steigt die Angst und die Verunsicherung.
Ja, aber ich glaube einfach, dass Eltern tendenziell vorsichtiger geworden sind. Und wenn man selbst ein ängstlicher Mensch ist, dann überträgt sich das auch auf die Kinder. Ängstliche Kinder haben ängstliche Eltern.
Von Andreas Eberhard, Funke-Mediengruppe
Die Goslarsche Zeitung gibt es auch als App: Einfach downloaden und überall aktuell informiert sein.