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Rudi Cerne im Interview

„Aktenzeichen hängt man nicht mit dem Anzug in den Schrank“

Rudi Cerne ist seit 20 Jahren das Gesicht von "Aktenzeichen XY - ungelöst". Foto: Tobias Schult

Rudi Cerne ist seit 20 Jahren das Gesicht von "Aktenzeichen XY - ungelöst". Foto: Tobias Schult

Seit 55 Jahren flimmert „Aktenzeichen XY – ungelöst“ über die TV-Bildschirme und hilft Verbrechen aufzuklären. Im exklusiven GZ-Interview spricht Moderator Rudi Cerne mit Redakteurin Lisa Kasemir über Fälle, die ihm auch noch heute eine Gänsehaut bereiten.

Von Lisa Kasemir Samstag, 12.11.2022, 10:00 Uhr

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Ich bekam damals einen Anruf von Hans Janke, dem Fernsehspielchef und stellvertretenden ZDF Programmdirektor. Ich war zu der Zeit gerade als Moderator bei der Tour de France im Einsatz. Dann trat er direkt mit dem Angebot an mich heran und sagte: Ich hätte Sie gerne als Moderator für Aktenzeichen XY verpflichtet. Da ist mir natürlich die Kinnlade heruntergefallen. Im Nachhinein erfuhr ich, dass ich auch Eduard Zimmermanns Wunschkandidat war. Das war wirklich schon eine riesengroße Überraschung. Ich hatte noch eine ganze Weile überlegt und schließlich zugesagt. Das war dann schon ein großer Kontrast: Vom Sport zum Mord. Ein ganz neues Fahrgefühl für mich.

Auch die Polizei Goslar war bereits in der ZDF-Sendung vertreten. Zuletzt suchte Kriminalhauptkommissar Lutz Lucht (li.) nach Zeugen im Mordfall Manczak. Foto: Privat

Auch die Polizei Goslar war bereits in der ZDF-Sendung vertreten. Zuletzt suchte Kriminalhauptkommissar Lutz Lucht (li.) nach Zeugen im Mordfall Manczak. Foto: Privat

„Ein ganz neues Fahrgefühl“ sagen Sie. Das bringt sicherlich auch eine große Umstellung mit sich. Können Sie nach einer Sendung ganz entspannt zu Bett gehen und schlafen?
Ich kann gut schlafen, aber das dauert nach einer Sendung noch eine Weile. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass man in so einer Livesendung ganz schön viel Adrenalin produziert und es dann eine Weile dauert bis man runterkommt. „Aktenzeichen XY – ungelöst“ hängt man nicht mit dem Anzug in den Schrank. Ich erlebe die Sendung nicht wie der Zuschauer, also nicht in Wohnzimmerstimmung, mit abgedunkeltem Licht, dem rauschenden Wind vor dem Fenster. Ich beschäftige mich mit den Themen in einem Vorführraum, im Büro, ich rede mit den Ermittlern und dann ist auch sehr viel auf eine sachliche Ebene reduziert. Nichtsdestotrotz kann man nicht von von jetzt auf gleich abschalten. Es beschäftigt mich danach schon und ganz besonders, wenn Kinder zum Opfer werden. Kinder haben keine Chance gegen einen gewaltbereiten Täter. Wie beispielsweise in einem Fall, der in unserem Podcast vorkommt: Tristan Brübach. Im Jahr 1998 wurde er, ein damals 13-jähriger Junge auf unvorstellbar brutale Art und Weise ermordet. Man hat seine verstümmelte Leiche in einem Tunnel gefunden. Das geht schon sehr unter die Haut. Ein Junge musste schreckliche Qualen erleiden, man fragt sich: Wozu und wofür?

Man spürt, dass Sie das bewegt. Gibt es einen Fall, der ihnen in den gesamten 20 Jahren Aktenzeichen-Berufserfahrung nicht aus dem Kopf geht?
Ja! Leider ist dieser Fall auch bisher nicht gelöst worden. Kirsten Sahling, eine 39-jährige Frau, hatte 2009 gerade eine Krebserkrankung überwunden und war mit ihrem Ehemann morgens zum Joggen im Spandauer Forst. Ihr Mann war schon einmal vorgelaufen als sie sich noch mit Dehnübungen aufhielt. Dann passierte es: Sie wird zum Opfer eines Messerstechers. Ein Mann kam mit dem Fahrrad vorbei, hielt an und stach unvermittelt auf die Frau ein. Sie verlor viel Blut und zeitweise auch das Bewusstsein. Zu diesem Zeitpunkt eilten Passanten an den Tatort heran und kümmerten sich um Kirsten Sahling. Das Letzte, was sie noch sagen konnte: „Sagen Sie meinem Mann bitte, dass ich ihn liebe“. Sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert und ist dort verstorben. Es gab immer wieder Ansätze. Beim LKA Berlin laufen auch heute noch immer wieder Hinweise am Jahrestag des Mordes ein. Um die Weihnachtszeit melden sich dort Menschen, die nachfragen, was sich in dem Fall getan hat. Aber alles führt nicht zum Erfolg. Ein entsetzlicher Mord, der mich immer noch beschäftigt.

Der Fall Maddie McCann wurde mehrmals in der ZDF-Sendung ausgestrahlt. Foto: dpa

Der Fall Maddie McCann wurde mehrmals in der ZDF-Sendung ausgestrahlt. Foto: dpa

Über Fälle, die unter die Haut gehen, sprechen Sie neuerdings auch zusammen mit Conny Neumeyer im ZDF-Podcast „Aktenzeichen XY – Unvergessene Verbrechen“.
Podcasts, in der True-Crime-Rubrik gibt es schon eine ganze Zeit. Die Frage war, wir könnten das doch auch machen. Wir sind schließlich die Mutter aller True-Crime-Sendungen, da liegt es doch auf der Hand. Wir haben Kontakt zu den Kommissaren und Kommissarinnen, die uns ihre spannende Ermittlingsarbeit schildern. Wir können über diesen Weg auch noch tiefer in die Fälle eintauchen und das Ganze ohne Zeitdruck. Alle zwei Wochen erscheint donnerstags eine neue Folge.

Hören Sie auch andere Podcasts?
Derzeit konzentriere ich mich primär auf unsere Produktion und das nimmt Zeit in Anspruch. Wir arbeiten auch da sehr sorgfältig. Das ist wirklich eine aufwendige Arbeit. Eine 45 Minuten Ausstrahlung ist nicht in 48 Minuten abgefrühstückt. (lacht) Es dauert mitunter ein paar Stunden bis alles im Kasten ist, wie wir beim Fernsehen sagen. Ich bin so eingebunden, dass ich kaum dazu komme, andere Podcasts zu hören.

Podcasts haben meistens mehr Erfolg bei der jüngeren Zielgruppe. Somit erreichen Sie auch neue Zuschauer…
Wir haben generell bei „Aktenzeichen XY – ungelöst“ eine sehr junge Zielgruppe. Zuletzt hatten wir bei den 14-bis 59-Jährigen einen Marktanteil von 18 Prozent. Das ist ein sehr guter Wert. Auch die Reaktionen in der Stadt beispielsweise sind sehr interessant. Es kommt schon mal vor, dass mich Menschen ansprechen nach dem Motto „Ich habe Sie gestern bei Aktenzeichen gesehen, was ist denn aus dem und dem Fall geworden?“. Das ist eine Interaktion, die man sich nur wünschen kann.

„Aktenzeichen XY – ungelöst“ trägt immer wieder zur Klärung von Verbrechen bei. Kann man sagen, wie viele Straftaten durch die Sendung gelöst werden konnten?
Nahezu 40 Prozent aller Fälle, die seit 55 Jahren bei uns gezeigt werden, sind aufgeklärt worden, manch ein Fall direkt durch einen Zuschauerhinweis. Mit „Aktenzeichen XY“ wird halt viel Staub aufgewirbelt und ein Stein ins Rollen gebracht. Mir fällt dazu explizit ein Fall ein: Lolita Brieger, eine 18-Jährige schwangere junge Frau verschwand 1982 spurlos. Die Polizei befürchtete gleich, dass Opfer eines Verbrechens geworden war. Ihre Leiche konnte aber nicht gefunden werden. Nach 29 Jahren wurde der Fall erneut aufgerollt und der Ermittler Wolfgang Schuh trat im Studio bei uns mit dem zuständigen Staatsanwalt auf. Es meldete sich damals die ehemalige Freundin eines Mitwissers. Er ist erneut vernommen worden, hat sich in Widersprüche verstrickt und ist eingeknickt. Man hat ihre Leiche doch noch finden können. Sie war auf einer Mülldeponie abgelegt worden. Allerdings konnten die Mordmerkmale nicht nachgewiesen werden und damit war die Tat verjährt hat. Der Täter ging straffrei aus.

Der Täter wurde also nie zur Rechenschaft gezogen…
Genau, aber was wirklich bewegend war ist, dass Lolitas Mutter danach gesagt hat: „Jetzt habe ich endlich ein Grab, an dem ich trauern und damit abschließen kann.“
„Aktenzeichen XY – ungelöst“ hat geholfen dieses Tötungsdelikt aufzuklären und das zeigt die Relevanz und Bedeutung dieser Sendung. Wenn es sie nicht schon gäbe, müsste man sie erfinden. Interaktion im besten Sinne: Die Zuschauer können helfen schwerste Verbrechen und Kapitaldelikte aufzuklären. Das ist ganz im Sinne des Erfinders Eduard Zimmermann. Es ist eine große Genugtuung für uns, helfen zu können.

Conny Neumeyer und Rudi Cerne sprechen alle zwei Wochen donnerstags im Podcast "Aktenzeichen XY... Unvergessene Verbrechen" über gelöste und ungeklärte Verbrechen. Foto: Nadine Rupp/ZDF

Conny Neumeyer und Rudi Cerne sprechen alle zwei Wochen donnerstags im Podcast "Aktenzeichen XY... Unvergessene Verbrechen" über gelöste und ungeklärte Verbrechen. Foto: Nadine Rupp/ZDF

Auch nach all den Jahren noch immer ein sehr aktueller Fall: Madeleine McCann…
Ich habe in diesem Fall immer wieder die Eltern vor Augen, als ich sie das erste Mal getroffen habe. Kate und Gerry McCann traten ja bei uns im Studio auf. Zuvor hatten wir uns zu einem Treffen in der Nähe von Birmingham zu einem Vorgespräche verabredet, dieses erste Kennenlernen war sehr wichtig. Die Eltern waren sehr höflich und wirkten ruhig und gefasst. Aber bei Kate McCann hatte ich den Eindruck, dass sie fast körperlich unter dieser unerträglichen Situation leidet. Diese Ungewissheit ist ja zermürbend. Das bestätigen auch immer wieder die Angehörigen von Vermissten die ich in unserer „Aktenzeichen XY“ Spezialsendung erlebe. Was alle unison sagen ist: Wir sind froh, dass sich noch jemand um unsere Fälle kümmert. Denn irgendwann sagt auch die Polizei: Wir haben jetzt alle Spuren abgearbeitet, wir können nur auf eine neue Entwicklung hoffen und wenn wir die mit Aktenzeichen herstellen können und es kommen neue Hinweise, dann können wir neu ansetzen. Es gibt verschiedene Einschätzungen, was passiert sein könnte. Ob das Kind vielleicht gezielt entführt wurde oder ob es anderweitig verschwunden ist. Die wildesten Spekulationen laufen nach wie vor.

Durch die Sendung haben Sie viel mit Verbrechensthemen zu tun. Sind Sie schon einmal selbst zum Opfer geworden?
Glücklicherweise nicht! (lacht) Ich bin noch nie zum Opfer einer Straftat geworden, allerdings bin ich mal mit einem der meist gesuchten Terroristen verwechselt worden. Christian Klar. Am 27. Dezember 1978, es war die Hochzeit des RAF Terrorismus. Ich sah seinem Foto auf den Fahndungsplakaten offensichtlich ähnlich. Polizisten waren einem Hinweis nachgegangen und nahmen mich am Düsseldorfer Flughafen fest. Alles ließ sich alles nach gut 15 Minuten wieder aufklären. Das war bislang die größte Aufregung in meinem Leben.

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