Frankenberger Winterabend in Goslar dreht sich um Narrative

Professor Dr. Wolfgang Müller-Funk spricht zu Gast beim Frankberger Winterabend von der Macht der Narrativen. Foto: Fricke
Beim Frankenberger Winterabend am Dienstag sprach Kulturwissenschaftler Dr. Wolfgang Müller-Funk über die Macht, Wahrheit und Wirkung von Narrativen und welche Probleme es in der Kommunikation geben kann, wenn wir unterschiedliche Narrative haben.
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Goslar. Ob die Großmutter, die ihren Enkeln Geschichten von früher erzählt, Freunde, die sich im Café treffen und sich über Neuigkeiten austauschen oder aber in der Politik und in den Medien – Narrative begegnen uns überall, sind allgegenwärtig. Über deren Macht, Wahrheit und die Wirkung sprach Professor Dr. Wolfgang Müller-Funk am Dienstag beim Frankenberger Winterabend.
Eine Frage der Wahrheit
Narrative – das sind Erzählungen, die eine gemeinschaftsstiftende Funktion haben. Als Beispiel verweist Müller-Funk auf den Hochaltar der Kirche, der die Leidensgeschichte Jesu abbildet. Auch dabei handelt es sich um ein Narrativ, auch wenn es in diesem Moment nicht aktiv erzählt wird. Verbunden ist der Begriff mit der Narration, also dem Erzählen an sich und der Narratologie, also Lehre des Erzählens. So begegnet uns eine Narration zum Beispiel auch in Gerichtsprozessen, wenn der Tathergang vom Richter vorgelesen wird.
„Auch im Alltag wird viel erzählt“, sagt Müller-Funk. „Noch nie wurde so viel erzählt wie heute.“ Und das ist etwas, das unsere Gesellschaft prägt. Wir wollen erzählen, uns mitteilen, haben aber gleichzeitig Angst, dass jemand etwas über uns erfährt, zeigt der Professor die Widersprüchlichkeit in unserem Handeln auf. „Wir sind hin und hergerissen.“ Aber trotzdem: Durch Erzählungen machen wir deutlich, wer wir sind. Sie werden identitätsstiftend, zu unserem Lebensfaden. Und erzählen ist zunächst einmal einfach. Das kann jeder. Ob einfach in linearer Reihenfolge oder komplex. Narrative setzen aber voraus, dass Menschen handelnd in der Welt unterwegs sind. „Sonst haben wir ja nichts mehr zu erzählen“, erklärt Müller-Funk.
Wie sind wie geprägt
Somit ist auch die Kultur ein Ensemble von Narrativen. „Das hat jede Gruppe von Menschen“, sagt Müller-Funk weiter. Sie werden jedoch meist nicht weiter beachtet. Erst wenn ein neues Narrativ hinzukommt, wird in der Gruppe darüber diskutiert. Sind es immer Fakten und Wahrheiten, die verbreitet werden? „Fakten gibt es ja nur, weil sie in Erzählungen eingebettet sind“, verdeutlicht Müller-Funk. Eine Erzählung sei nicht nur eine Kopie der Fakten sondern immer gleich eine Interpretation.
Wie sind wir geprägt? Welchen Narrativen folgen wir? So sind die Erzählformen der Katholischen Kirche andere als bei den Protestanten. Zudem sorgen Narrative dafür, dass wir uns erinnern können. Diskussionen werden immer schwieriger – so eine Hypothese. Ein Grund dafür sei, dass immer mehr Menschen mit verschiedenen Narrativen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander treffen. Um zusammenzukommen, könne das Wissen über die Narrative helfen. „Wir müssen aber lernen, auch die Narrative anderer Menschen auszuhalten. Wir müssen aufhören, ständig beleidigt und empört zu sein. Das ist eigentlich ja gut, aber wir müssen auch in der Lage bleiben, zu interpretieren und damit umzugehen“, sagt Müller-Funk. „Wenn ich auf meinen Narrativ beharre und sage `das gehört mir´, kann ich nicht kommunizieren.“
Decken und Suppe
Trotz Kälte kamen viele Interessierte in die Frankenberger Kirche. Dick in Decken eingepackt und ausgestattet mit Wärmflaschen lauschen die Gäste bei einer Tasse heißem Tee in der ungeheizten Frankenberger Kirche den Worten des renommierten Literatur- und Kulturwissenschaftlers aus Wien.
Nach einer knappen Stunde können die Gäste sich bei einer warmen Suppe aufwärmen, die von der Berggaststätte Maltermeister Turm gesponsort wurde. Die anschließende Fragestunde findet aufgrund der Temperaturen nur noch im kleineren Kreis statt.
Neue Terminlage bei den Frankenberger Winterabenden
China-Expertin Dr. Kristin Shi-Kupfer, die eigentlich im Februar in Goslar über Chinas Digital- und Medienpolitik sprechen wollte, hat aufgrund eines neuen Lehrauftrags ihren Auftritt abgesagt. Sie bleibt eine Kandidatin für die nächste Saison.
Eine feste Zusage liegt seit Dienstagnachmittag von SPD-Chef Lars Klingbeil vor. Der aus Soltau stammende Niedersachse führt die Genossen seit Dezember 2021 zusammen mit Saskia Esken. Er spricht kurz vor den Osterferien am 23. März (Donnerstag) zum Abschluss der Winterabende über den neuen Weg der SPD. Der Arbeitstitel lautet: „Attacke, Genossen – Pazifismus war gestern“.
Vorher kommt Dr. Janina Loh zum Winterabend am 2. März (Donnerstag) in die Frankenberger Kirche. Mit der Fragestellung „Heute Mensch – Maschine morgen?“ geht es der Philosophin und Ethikerin von der Stiftung Liebenau um die Vision des Transhumanismus. Wenn Medizin immer mehr kann: Wann besteht ein Mensch aus so vielen Technikteilen, dass er eine Art Supermensch wird? Die Winterabende beginnen jeweils um 20 Uhr.