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Nachgedacht

Zerissenheit am Tag der Einheit

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), geht nach einem Krisentreffen des Koalitionsausschusses der Ampelkoalition.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), geht nach einem Krisentreffen des Koalitionsausschusses der Ampelkoalition. Foto: picture alliance/dpa

GZ-Chefredakteur Jörg Kleine reflektiert in seiner Kolumne „Nachgedacht“ über die Zerrissenheit der Ampel-Koalition, Scholz‘ Zukunft im uneinigen Deutschland und Trumps Wahlsieg in den USA.

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Von Jörg Kleine
Samstag, 09.11.2024, 08:00 Uhr

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Diesmal hatte Martin Richenhagen nicht den richtigen Riecher. Seit der US-Wahl 2004 habe er stets den Wahlausgang richtig vorausgesagt, plauderte der Wirtschaftsfachmann am Montag in einer TV-Talkshow – und setze auf Kamala Harris. Einen Tag später ging indes Donald Trump als Wahlsieger hervor.

Er sei als Politiker und Privatmann, wie man ihn sich vorstellt, beschrieb die frühere deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, in derselben Sendung den neuen alten US-Präsidenten mit vielsagendem Schmunzeln. Wie sie das gemeint haben könnte, machte wiederum Richenhagen, gebürtiger Kölner, ehedem Chef eines Landmaschinenkonzerns und selbstbewusster Glatzenträger, später plastisch: Beim ersten Treffen, noch vor seiner Amtszeit als Präsident, habe ihm Trump eine Dose Haarspray geschenkt.

Richenhagen war unter Trumps Vorgänger Barack Obama in einem Wirtschaftsrat der US-Regierung, der dann auch Trump in dessen erster Amtszeit beraten sollte. Doch Trump habe sich ein halbes Jahr lang überhaupt nicht für die Expertengruppe interessiert – und sei danach „eine totale Enttäuschung gewesen“. Also zeigte ihm auch Richenhagen die kalte Schulter und trat aus dem Beratergremium aus, denn Trump sei ohnehin beratungsresistent. Ein völlig unberechenbarer „Clown“, der „heiße Luft“ verbreite und „von den Tatsachen absolut keine Ahnung“ habe, resümierte der Wirtschaftsfachmann: „Ich halte ihn für einen kriminellen Lügner.“

Als „Clown“ lässt sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz nun nicht gerade charakterisieren. Zumal der SPD-Vormann und Hanseat bei seinen Reden meist dreinblickt, als würde er zum Lachen in den Keller gehen. Was ihn von Trump aber mindestens ebenso unterscheidet: Nach Trumps Wahlsieg nahmen die Börsianer die Ansagen des „Clowns“ wörtlich, bevor er überhaupt wieder ins Weiße Haus eingezogen ist.

Aktien der gesamten deutschen Autobauer fielen in den Keller, während Rüstungsaktien stiegen – und Tesla, die Automarke von Trumps Wahlkampfunterstützer Elon Musk, am Aktienmarkt quasi durch die Decke schoss. „Elon Musk nach US-Wahl 90 Milliarden Euro reicher“, rechnete die Bild-Zeitung vor.

Am selben Tag ließ der deutsche Kanzler hingegen die Ampel-Koalition platzen und warf seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) aus dem Kabinett. Mithin sitzt nun in Berlin ein Mann im Kanzleramt, dessen Einfluss auf die Wirtschaft des Landes auf den Nullpunkt gesunken ist. Kein skurriler Clown wie vielleicht in Washington, aber zumindest eine lahme Ente – oder „lame duck“, wie das in den Vereinigten Staaten landläufig heißt: Ein Staatschef, der noch im Amt ist, aber die Wahl schon verloren hat. Denn es braucht geradezu Trump‘sche Illusionskraft, um sich vorzustellen, dass Olaf Scholz nach seiner krachend gescheiterten Ampel-Regierung noch irgendwelche Chancen hätte, weiterhin eine führende Rolle in der Bundespolitik zu spielen.

Kein Unternehmer, kein europäischer Staatschef, schon gar nicht der Clown im Weißen Haus setzen noch einen Pfifferling auf den (Noch-)Bundeskanzler – und auf seine Ministerinnen und Minister ebenso. Die Logik, im Bundestag erst im Januar die Vertrauensfrage stellen zu wollen, kann außer Scholz wohl niemand verstehen. Höchste Zeit, dass „lame duck“ im Kanzleramt nun Abschied nimmt. Auch wenn es just an diesem 9. November, dem historischen Datum des Mauerfalls in Berlin, umso bitterer für Deutschland klingt.

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