Der Zwang zum Aufessen in Goslars Kitas ist abgeschafft

Die Zahl an Krippenplätzen für die Ganztagsbetreuung soll in den städtischen Kitas schnellstmöglich erweitert werden. Außerdem will die Verwaltung das Essensgeld neu kalkulieren und dafür die monatliche Pauschale erhöhen. Archivfoto: Patrick Pleul/dpa
„Wenn du aufisst, scheint morgen die Sonne“ – mit diesem Satz wurden Generationen motiviert, ihr Mittagessen gänzlich zu verspeisen. Jetzt gilt das als Grenzüberschreitung. Kitas in Goslar setzen auf gemeinsames Einkaufen und Entscheidungsfreiheit.
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Goslar. „Wenn du aufisst, scheint morgen die Sonne.“ Diesen Satz hören Goslarer Kita-Kinder nur noch selten. Während Eltern und Großeltern oft noch mit mehr oder weniger Druck motiviert wurden, ihr Mittagessen komplett zu verspeisen, gilt dies heute sogar als Grenzüberschreitung entsprechend dem Kinderschutzgesetz. Wie halten es Goslarer Kita-Leiterinnen damit?
Doris Engels, Leitung des St. Georg Kindergarten in Jürgenohl, hält von „sämtlichen Regeln gar nichts“, wie sie auf GZ-Nachfrage klarstellt. Essen müsse ihrer Meinung nach Spaß machen. Sie und ihre Mitarbeiterinnen lassen die Jungen und Mädchen an der Gestaltung des Essens teilhaben und gehen dazu auch mit ihnen beim Schlachter oder auf dem Markt regionale und frische Lebensmittel einkaufen. Die Kinder dürften dort ihre Wünsche und Ideen äußern, sodass es danach auch gar keine Probleme oder Verweigerungen beim Essen gäbe, betont Engels.
Schöne Esskultur
Und wie ist es mit Sätzen wie „Man muss alles probieren“ oder „Wenn du aufisst, bekommst du auch einen Nachtisch“? Die Kinder im St. Georg Kindergarten müssten auch nicht probieren oder aufessen, es gäbe aber trotzdem immer einen kleinen Nachtisch, erklärt Engels. Dies kann auch ein Salat oder Joghurt sein.
Die Kita-Leiterin stellt sich die Frage, ob es denn mittags immer was Warmes sein müsse. „Das Kind weiß besser als ich, ob es voll ist oder nicht“, sagt sie bestimmt. Partizipation sei dabei ein ganz großes Thema in ihrer Kindertagesstätte. Die Kinder hätten freie Entscheidung, und das führe zu einer „schönen Esskultur“. Um das auch in Zukunft umsetzen und beibehalten zu können, nehmen ihre Mitarbeiter regelmäßig an Fortbildungen teil. Diese beschreibt Engels als „sehr hilfreich“. Sie seien begeistert von den Lehrgängen und fühlten sich dadurch bestärkt in ihrem Handeln.
Auch Birgit Kubitza, Leiterin des „Kunterbunt“-Kindergartens, hält die veralteten Regeln für nicht richtig. Ihrer Meinung nach haben Kinder ein gutes Hungergefühl. Ihr Kita-Team versuche, die Kinder mit Spaß an neue Lebensmittel heranzuführen und ihren Horizont auf diesem Weg zu erweitern. „Kinder haben ein Recht darauf, ‚Nein‘ zu sagen“, sagt Kubitza.
Auch in ihrer Kindertagesstätte gibt es einen kleinen Nachtisch, egal was oder wie viel das Kind vorher gegessen hat. Davon werde es nicht abhängig gemacht, und so werde auch kein Druck auf das Kind ausgeübt. Auch eine Alternative oder ein Brot zwischendurch würde man anbieten, wenn das Kind sich beim Mittagessen nicht satt gegessen hat. Außerdem setzten die Kunterbunt-Mitarbeiter auf regionale Bioprodukte – und würden sich wünschen, ihr Angebot in Zukunft noch weiter ausbauen zu können. „Mittlerweile sind Bioprodukte ähnlich gelagert, beim Preis gibt es kaum noch einen Unterschied“, teilt die Kunterbunt-Leiterin mit.
Probieren ohne Zwang
Brigitte Taeschner, Leiterin des Kindergartens Immenrode, stellt klar: Wenn ein Kind das Essen nicht mag, muss es das nicht essen. „Wir ermuntern Kinder gerne, Lebensmittel zu probieren, die sie von zu Hause nicht kennen“. Dabei sei jedoch wichtig, dass es bei einem Animieren bleibe und kein Zwang entstehe. Man könne dem Kind das Essen so nämlich zukünftig verleiden. Taeschner hofft darauf, dass die Eltern ihre Kinder schon zu Hause dabei unterstützen, herauszufinden, wie viel sie essen können und wann sie satt sind. Vor Corona durften sich die Kinder ihr Essen im Kindergarten Immenrode selber nehmen – sie konnten also essen, was und wie viel sie wollten. Ein erfolgreiches und gut angesehenes Konzept, laut Taeschner. Daher habe die Kita es vor Kurzem wieder aufgegriffen und realisiert. Die Kinder seien frei in ihren Entscheidungen, auch in Bezug auf die Platzwahl und Gesellschaft beim Essen. So könne eine schöne Atmosphäre geschaffen werden.
Kita-Fortbildnerin Bianca Hofmann stellte ausdrücklich klar: Das „Nein“ eines Kindes zu akzeptieren sei „Teil des aktiven Kinderschutzes“. Vonseiten der Fachkräfte sei die Grenzüberschreitung in den vergangenen Jahren aber unbeabsichtigt gewesen, da es früher ein anderes Bildungs- und Erziehungsverständnis gegeben habe.