Behörden fürchten eine neue Asylkrise

Auch die Unterkünfte auf dem Tempelhofer Feld standen lange leer. Nun leben dort wieder Familien. Foto: Getty Images/afp
Die Flüchtlingszahlen sind schon jetzt auf dem Niveau von 2015. Der Krieg in der Ukraine stellt Deutschlands Flüchtlingshilfe erneut auf die Probe. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund spricht von einer „angespannten Situation“.
Für nur 0,99 € alle Artikel auf goslarsche.de lesen
und im ersten Monat 9,00 € sparen!
Jetzt sichern!
Berlin. Lange stand die Turnhalle leer, die Herzogenrath schon in den ersten Kriegswochen im März für Sport blockiert hatte, um dort Flüchtlinge unterzubringen. Doch die Menschen aus der Ukraine kamen in der Stadt bei Aachen zunächst privat unter, in Wohnungen, bei Familien. 19 Personen schlafen bisher in der Halle. „Nicht einfach auf Matten – es sind separate Räume eingerichtet, Familien finden Ruhe, das Deutsche Rote Kreuz betreut die Menschen vor Ort“, hebt Bürgermeister Benjamin Fadavian (SPD) im Gespräch mit unserer Redaktion hervor. Im August sei die Zahl der Flüchtlinge, die durch das Land an die Kommunen zugewiesen wurden, „sprunghaft angestiegen“, erzählt Fadavian. Nun setzen sie erstmals die Turnhalle ein. Eine zweite Halle könne schnell aktiviert werden. „Unser Ziel ist, dass wir die Menschen schnell in Wohnungen verteilen. Doch die Kapazitäten sind am Limit, jetzt mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch“, sagt der Bürgermeister.
Turnhallen gesperrt
Berichte wie aus Herzogenrath gibt es auch aus anderen Städten und Gemeinden: Der Landrat im sächsischen Schmölln sperrt eine Halle, auch in mehreren bayerischen Orten sind Turnhallen nun mit Geflüchteten belegt, ebenfalls im niedersächsischen Lehrte. Mehrere Bundesländer haben derzeit nach Information unserer Redaktion einen „Aufnahmestopp“ beim Verteilsystem „Easy“ des Bundes gemeldet. Es sind Meldungen, die an 2015 erinnern – das Jahr der großen Fluchtkrise, die sich eingebrannt hat in die Debatten über Migration und Asyl in Deutschland. Nun ist alles still, keine Asyldiskussionen, das Land sorgt sich um hohe Preise und den Krieg in der Ukraine. Dabei sind die Flüchtlingszahlen schon jetzt, Ende des Sommers, auf dem Niveau von 2015.
Knapp eine Million Menschen hat Deutschland aus der Ukraine aufgenommen – so viel wie damals Syrer und Iraker. Doch jetzt kommen noch mehr als 20.000 afghanischen Ortskräfte und ihre Familien hinzu. 3500 Gerettete aus dem Mittelmeer nimmt die Bundesrepublik pro Jahr auf. Der Krieg hat Deutschlands Flüchtlingshilfe auf eine Probe gestellt. Bisher scheint es, als könne das Land die Kraft aufbringen. Doch die Krisen der Welt verschärfen sich, nicht nur in der Ukraine. Und im Abklang der Pandemie migrieren wieder mehr Menschen. 2022 stellten bisher rund 100.000 Menschen Asyl, vor allem Syrer und Afghanen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex registrierte für das erste Halbjahr 155.000 irreguläre Grenzübertritte in die EU – ein Anstieg um 86 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Am Berliner Hauptbahnhof kamen im März, kurz nach Kriegsausbruch, besonders viele Flüchtlinge an. Foto: Clemens Bilan/EPA-EFE
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund spricht von einer „angespannten Situation“. Vor allem Süddeutschland scheint betroffen, weil dort Flüchtlinge über die Route aus Südosteuropa einreisen. Und weil dort bisher und anders als in Berlin, Hamburg oder Frankfurt/Oder weniger Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ankamen. Doch das ändert sich. „Allein seit Anfang Juli hat sich der durchschnittliche Zugang ukrainischer Geflüchteter mehr als verdoppelt“, teilt das Innenministerium in Baden-Württemberg mit.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) fordert, dass „dringend alles auf den Prüfstand“ soll, „was ein Mehr an Migration nach Deutschland befördert“. Das „Mindeste“ sei, dass sich der Bund zu den „ungedeckten Kosten im Ukraine-Kontext“ bekennen müsse und zu künftigen Bundeshilfen bei der Versorgung von Geflüchteten. „In Bayern sind die Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber zunehmend ausgelastet, dennoch ist Bayern aktuell noch aufnahmefähig“, sagt Herrmann.
Bundesamt überlastet
Die Situation ist eine andere als 2015. Eine Million Syrer, Afghanen und Iraker konnten damals nicht arbeiten oder einen Integrationskurs besuchen, weil sie erst durch das Asylverfahren des völlig überlasteten Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mussten. Das dauerte Monate. Die Ukrainer melden sich einfach bei den Behörden in den Kommunen – und können arbeiten.
Auch die Bundesregierung ist nicht untätig. Der Anteil der Umsatzsteuer für die Länder wurde erhöht, um die Versorgung von Geflüchteten in den Kommunen zu finanzieren, insgesamt sind das zwei Milliarden Euro vom Bund. Hinzu kommen weitere zwei Milliarden, um die Ukraine-Flüchtlinge schnell mit Leistungen nach Hartz IV zu versorgen. Aktuell bewertet das Deutsche Rote Kreuz (DRK) die Versorgungslage für Menschen aus der Ukraine in Deutschland als „gut“.
Allerdings werden die Stimmen lauter, die davor warnen, dass diese „Solidarität am Limit“ sei. Gerade in den Kommunen. Dort wächst die Nervosität. Denn der Winter naht – und damit die kalten Monate in der Ukraine. Also die Frage, wie stark die Flüchtlingszahlen dann anwachsen können. „Die Lage in dem Kriegsgebiet ist im Moment so volatil – wir wissen kaum, wie der Frontverlauf ist“, sagt ein ranghoher Beamter der Innenbehörden. Der Generalsekretär des DRK, Christian Reuter, warnt, dass „Kampfhandlungen jederzeit zu neuen Fluchtbewegungen führen“ können.
Wer zahlt wie viel?
Die Länder machen Druck auf den Bund – auch weil es um die knallharte Frage geht: Wer zahlt wie viel? Sachsen Innenminister Armin Schuster (CDU) schreibt in einem internen Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Der Tenor laut Medienberichten: Wohnungen würden immer knapper, die Lage in Kindergärten und Schulen, aber auch auf dem Arbeitsmarkt verschärfe sich durch eine „Verdrängungssituation“.
Bürgermeister Fadavian aus Herzogenrath ist dennoch optimistisch. Szenarien wie 2015 erwarte er nicht. „Die Menschen spüren, wie nah der Krieg in der Ukraine ist, wie sehr eine neue Zeit begonnen hat.“
Von Christian Unger, Funke Mediengruppe