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Anthologie über die Zeit

Verein „Lyrik lebt“ liest im Hahnenkleer Museum

Vier Autorinnen stellen ein Buch vor: Rosita Busch (von links), Renate Riehemann, Petra Horn und Claudia Dietrich lesen im Hahnenkleer Museum aus ihrer Vereinsanthologie "Still lacht die Zeit".

Vier Autorinnen stellen ein Buch vor: Rosita Busch (von links), Renate Riehemann, Petra Horn und Claudia Dietrich lesen im Hahnenkleer Museum aus ihrer Vereinsanthologie "Still lacht die Zeit". Foto: Hartmann

Im Hahnenkleer Museum stellten vier Autorinnen des Vereins „Lyrik lebt“ ihre Vereinsanthologie vor. Die Spannweite reichte von Lyrik über Prosa bis zum japanischen Haibun, es ging um Natur und Geschichte, Schockanrufe und das Verstreichen der Zeit.

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Von Petra Hartmann
Freitag, 18.10.2024, 15:00 Uhr

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Goslar. „Lyrik lebt“ – das ist nicht nur der Name eines engagierten Autorenzirkels, sondern auch eine Erfahrung, die die Zuhörer im Hahnenkleer Museum am Mittwochabend machen konnten. Vier Autorinnen lasen dort ihre Gedichte und auch einige kürzere Prosatexte aus der aktuellen Vereinsanthologie „Still lacht die Zeit“ vor.

Zeit und der Umgang mit ihr, der Verlust, der Genuss, die Unmöglichkeit, sie festzuhalten ... das alles war Thema der sehr vielseitigen Textsammlung, die die vier Autorinnen vorstellten. Wobei die 16 Gäste der Lesung auch Kostproben aus dem Werk eines weiteren Autors zu hören bekamen. Denn Renate Riehemann, die den Lesungsreigen eröffnete und schloss, trug zum Beginn einige Verse ihres Vereinskollegen Manfred Pilz vor. „Zeit hat keinen Anfang und kein Ende“, hatte Pilz geschrieben. Er warnte davor, sich selbst zum Sklaven der Zeit zu machen, beschrieb das „Getöse“ des Weckers und gab den Lesern den Rat, innere Größe und Gelassenheit zu finden – „auf Augenhöhe und im Takt der Zeit“.

Rosita Busch als ehemalige Clausthaler Grundschullehrerin hatte ein melancholisches Gedicht über ein „entseeltes Haus“ mitgebracht, das ihr einst sehr vertraut war. Ein Haus, hell, lebendig, erfüllt von Kinderstimmen. Inzwischen sind die Fenster blind, die Türen öffnen nicht mehr, das Leben ist vergessen. Wer hier vermute, dass es nicht um ihr privates Wohnhaus gehe, der sei schon auf der richtigen Spur, meinte sie. Außerdem sann sie über den Monat Mai nach, über „Maigeflüster“ im Frühling, damals, als Mägdlein und Burschen sich trafen, in einer Zeit, in der sich „tändeln“ noch so herrlich auf „anbändeln“ reimte. Vokabeln, mit denen heute viele nichts mehr anfangen können. Kein Smartphone-Besitzer könne nachempfinden, was das alles bedeute, meine sie traurig: „Von Romantik keine Spur.“

Claudia Helena Dietrich, Vizevorsitzende und Mitherausgeberin der Textsammlung, trug Auszüge aus einem längeren Prosatext bei. Sie erzählte von einer Spurensuche in New York, genauer gesagt aus „Little Germany“ an der Lower Eastside, betrachtet zu verschiedenen Zeiten beziehungsweise in verschiedenen Epochen. Da war die Biergartenkultur, die zu Ende des 19. Jahrhunderts deutsches Lebens-Flair in den „Big Apple“ brachte, und da war das edle Schneidergeschäft des Ururgroßvaters Josef Petrauschke, der im Goldenen Zeitalter die vornehme Gesellschaft einkleidete. Dann kam der „schwarze Freitag“, der Börsencrash im Jahr 1927, die Weltwirtschaftskrise. Aber die Autorin verarbeitete auch moderne Impressionen aus einem New-York-Besuch. Etwa das Dröhnen der Harleys, mit denen das „New York Chapter“ der Hells Angels an seinem Treffpunkt vorfuhr. Oder einen Besuch bei „Katz‘s Deli“, dem legendären Feinkostgeschäft, in dem die nicht minder legendäre Orgasmus-Szene aus „Harry und Sally“ gedreht wurde und in dem Fans unbedingt genau das Gleiche bestellen wollen, was die Dame hatte.

Lernen von der Pusteblume

Petra Horn, Ortschronistin aus Bad Grund, erzählte von dem kleinen Raffael, einem sechsjährigen Jungen mit umfangreichen botanischen Kenntnissen. Ob Ringelblume oder Phlox, der Junge kennt sich aus. Eigentlich schade, dass der erträumte Bergwald aus „Raffis Ahörnern“ nie gepflanzt wurde. Jedenfalls eine Anregung zum Nachdenken über die kleinen „Baumkinder“, die manche Gartenbesitzer aus ihren Beeten herausjäten. Außerdem schilderte Horn eine interessante Beobachtung: Aus der Wurzel einer prachtvollen roten Rose sah sie weiße Blüten herauswachsen. So setzt sich die Natur am Ende doch noch durch. Viel lernen lässt sich auch von der Pusteblume: „Die Pusteblume vom Löwenzahn macht es uns vor“, schrieb sie. „Sie trägt ihre Schirmchen durch viele raue Wetter. Doch wenn die Zeit reif ist, lässt sie sie los beim ersten Windstoß.“

Schockanruf

Vereinsvorsitzende Renate Riehemann hatte das „letzte Wort“. Sie eröffnete ihre Lesung mit einem Krimi aus der Nachbarschaft: Ein betagter Nachbar erhielt einen „Schockanruf“, angeblich von seinem Sohn. Er sei unschuldig in einem türkischen Gefängnis eingesperrt, werde gefoltert. Entkommen könne er nur, wenn er einem der Aufseher 10.000 Euro gebe. „Papa, ich weiß doch, dass du das Geld hast“, knisterte es undeutlich aus dem Handy. Zum Glück gebe es einen Freund, der das Geld am Abend abholen könne. Außenstehende mögen den Kopf schütteln angesichts der Leichtgläubigkeit des Seniors. Aber der Sohn war in Dänemark, der Kontakt war wohl nicht so gut, und nun will der Betrogene um alles in der Welt nicht mit seinem Sohn reden und über den Betrug reden.

Riehemann stellte den Zuhörern außerdem eine japanische Literaturgattung vor, die Prosa und Lyrik kombiniert: Das Haibun ist eine kürzere Geschichte, an die sich ein Haiku anschließt. Sie las vier solcher Texte vor, meist über Natureindrücke und Beobachtungen beim Wandern, über Landschaften und blumengeschmückte Bänke, eine Selbsthilfegruppe trockener Alkoholiker, die im Zug reist. Abgeschlossen wurde das Haibun jeweils durch einen Dreizeiler, extrem verdichtet und gleichzeitig Raum zum Atmen gebend.

Der Verein ist noch recht jung. Gegründet wurde er im November 2021 von sieben Mitgliedern. Nun sind es über 40. Alle zwei Jahre erscheint eine neue Anthologie. Weitere Infos: www.lyrik-lebt.de.

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