Goslarer Kunstmeile: Wenn aus einem Kunstfrevel neue Kunst wird

„Hilfesuchender“: Bronze von Walter Kaune, entstanden 1998/1999, dahinter eine Reparatursäule mit Werkzeug. Fotos: Breitkopf
Harald Breitkopf ist der letzte noch lebende Künstler, der vor 25 Jahren die Goslarer Kunstmeile mitgeschaffen hat. Nachdem die Stadt die Kunstwerke mit Fahrradboxen zugestellt hatte, schuf der Fotograf mit seiner Leica eine Bild-Dokumentation.
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Die offenen Hände dem Betrachter entgegengestreckt, den Blick flehend erhoben – so tritt der „Hilfesuchende“ den Passanten in der Wohldenbergerstraße entgegen. „Hier werden Sie geholfen“, scheint die neu montierte Fahrradwerkzeugsäule hinter der Skulptur aus dem Off zu kommentieren, eine ungeplant ironische Brechung der Situation. Seit die Fahrradboxen und weitere Gebrauchsobjekte in der einstigen „Kunstmeile“ Bilder und Statuen verstellen, scheint sich auch die Botschaft der Werke zu verändern.
Harald Breitkopf, der letzte noch lebende Künstler, der die Straße mit gestaltet hat, dokumentierte die veränderte Optik und Wirkung der Kunst nun mit seiner Leica. Herausgekommen ist eine eindrucksvolle Bilderserie, die belegt, dass auch aus zerstörter oder zugestellter Kunst, aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, wieder neue Kunstwerke entstehen können.

„Eroberung und Angst“: Emaille-Siebdruck aus dem Jahr 1998 von Harald Breitkopf. Foto: Privat
Lokomotive ohne Räder
„Im Bund Bildender Künstler und in der ‚artComp‘ galt ich als Fotograf und kann mich für diese Straße nur fotografisch einsetzen. Also machte ich Aufnahmen von Straße und Kunstobjekten“, kommentiert der 78-Jährige, der mit zwei großformatigen Siebdrucken an der Karstadtwand vertreten und schmerzlich betroffen ist.
So verschwindet das Fahrwerk seiner Lokomotive nun hinter einer grauen Fahrradbox. Dass das alte Dampfross weiße Zweirad-Symbole als Untersatz erhielt, entbehrt nicht einer gewissen Situationskomik, und der blaue Himmel, unter dem sich abenteuerlustige Kinder tummeln, wird durch die grellrot leuchtenden Sicherheitsklebestreifen verblüffend und ausdrucksstark kontrastiert.

„Farbverwirrung“: Emaille-Siebdruck aus dem Jahr 1998 von Heinz Janzen. Die durcheinander flirrenden Farben und unscharfen Konturen werden nun kontrastiert durch die harten Linien und die monochrome Oberfläche der Fahrradbox.
Äußerst schmerzvoll bohrt sich am Beginn der Kunstmeile ein grauer Metallpoller in das Bild „Die Wunde“ und scheint dem Stamm der Zeder noch eine zweite Verletzung zufügen zu wollen.
Gequält stöhnt die aus der Karstadtmauer ausbrechende Menschengestalt auf, als ihr die Spitze einer Fahrradbox in die Rippen getrieben wird. Ob der Schriftzug „GZ-Reisen“, der darüber aufleuchtet, das ersehnte Ziel und die Möglichkeit des Entkommens aufzeigt?
Psychologe, Familienberater und Fachmann für Bildungswesen
Breitkopf ist eigentlich als Künstler nicht mehr aktiv. Der gebürtige Berliner und studierte Psychologe war nach seiner Universitätszeit bei Daimler Benz im Bildungswesen beschäftigt, später in Goslar und Quedlinburg als Familienberater. Er begründete die „Goslarer Gruppe der Fotografen“, und eines seiner großen Ziele war es, die Menschen wieder neugierig zu machen auf die heimatliche Umgebung. Den Wunsch, Fotograf zu werden, hatte er bereits als Schüler, doch ein Berufsberater redete es ihm aus. So blieben für ihn die Entdeckungsreisen mit der Leica ein schönes, erfüllendes Hobby. Die Ergebnisse sind immer noch sehenswert. Wie die Serie über die Kunstmeile, die eigentlich danach schreit, in einer Ausstellung gezeigt zu werden...

Fahrradboxen treffen auf Kunstwerke: Den schmerzlichen Zusammenstoß dokumentierte Harald Breitkopf mit seiner Kamera. Er ist der letzte noch lebende Künstler aus der Gruppe, die die Kunstmeile im Jahr 1998 gestaltet hat. Foto: GZ-Archiv
Auf der Tagesordnung von Kunstkommission und Stadtrat
Mit der zugestellten Kunstmeile wird sich nach der Sommerpause die Goslarer Politik befassen. Für Dienstag, 29. August, 17 Uhr, wurde inzwischen die Kunstkommission einberufen. Bislang ist die Kunstmeile der einzige Punkt auf der Tagesordnung, wie Stadt-Sprecherin Daniela Siegl mitteilte.
Außerdem gibt es inzwischen einen gemeinsamen Ratsantrag der Fraktionen Grüne Partei 42, FDP und Die Linke sowie des parteilosen Ratsherrn Niklas Prause. Die Stadtratspolitiker fordern, dass die Kunstmeile und die dort ausgestellten Kunstwerke in der Wohldenbergerstraße bleiben sollen. Für die Fahrradboxen, einschließlich der errichteten Nebenanlagen solle nach alternativen Aufstellungsmöglichkeiten gesucht werden. „Sollte eine mit den Kunstwerken verträgliche Aufstellung in der Wohldenbergerstraße nicht möglich sein, sind alternative Standorte vorzuschlagen“, fordern die Stadtratsmitglieder. Vor einer Umsetzung der Fahrradanlagen sollen Bauausschuss, Kulturausschuss und Kunstkommission gemeinsam beraten.