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„Stolpersteine“ bringt Film hervor

Emigrant Walter Levy (101) ist mit Humor gealtert

Walter Levy weiß, was ihm die Emigration in die USA ersparte. Im Holocaust-Museum in Dallas ist er häufiger Gast. Foto: Filmstill

Walter Levy weiß, was ihm die Emigration in die USA ersparte. Im Holocaust-Museum in Dallas ist er häufiger Gast. Foto: Filmstill

Kein Blick zurück im Zorn sollte er werden, der Film über den Juden Walter Levy, der nach seiner Emigration 1938 in die USA nie wieder deutschen oder gar Goslarer Boden betreten hat, und das ist rundum gelungen. Der Film feierte Premiere.

Von Sabine Kempfer Freitag, 24.11.2023, 12:00 Uhr

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In Goslar hatte Levy Onkel und Tante: Für Dagobert und Margarete Levy aus der Kornstraße wurden Stolpersteine gelegt. Hier lebten die Großeltern, bei denen Levy als Junge manche Ferien verbrachte. Sie sind in Goslar begraben. Der Film hält Wort, kein Zorn ist in ihm zu spüren, und der Start in den Filmpremierenabend fiel schwungvoll aus.

„On the Sunny Side of the Street“ hatten Rainer Buhl und Bernd Dallmann ausgewählt, die beiden Musiker begleiteten den Abend im Raum Arcachon des Kulturmarktplatzes musikalisch mit diversen Instrumenten und starteten mit einem klassischen Mutmacher-Stück gegen Ausgrenzung und Diskriminierung aus den Zwanzigern. Das passte, denn so kann der ganze Film gesehen werden: Er macht Mut, sich der Vergangenheit zu stellen, sie aufzuarbeiten, der Zukunft mit Engagement zu begegnen – genauso hat es Walter Levy gemacht, und so handelt der heute 101 Jahre alte rüstige Rentner noch immer.

Filmpremiere mit Livemusik von Bernd Dallmann (li.) und Rainer Buhl. Foto: Kempfer

Filmpremiere mit Livemusik von Bernd Dallmann (li.) und Rainer Buhl. Foto: Kempfer

Dass dieser gut halbstündige Dokumentarfilm überhaupt gedreht wurde, ist Stefan Cramer und seiner Frau Erika Hauff-Cramer zu verdanken, beide im Verein Spurensuche, beide im Projekt „Stolpersteine“ aktiv. Sie flogen einfach hin, nach Dallas, Texas, die ersten Filmsequenzen zeigen die amerikanische Welt im XL-Format, vielspurige Straßen, Autobahnknäuel, Wolkenkratzer, Beton.

Dann die Blende in den Mikrokosmos einer 1989 gegründeten Seniorenresidenz, Lebensort von Walter Levy, der dort im Jahr 2004 mit seiner Frau Hilma einzog, sie ist 2016 gestorben. Ritual: donnerstags von 13 bis 15 Uhr spielt er Skat.

In der Schule gemobbt

Seine Lebensgeschichte wird unter Headlines beleuchtet, ein kleiner Teil Erzählung, ein großer Teil eigener Aussagen, mit Übersetzung in die jeweils andere Sprache als Untertitel. Levy erzählt von seiner Schulzeit in Ostpreußen, er stammt aus Königsberg, erlebte damals schon die immer stärker werdende Ausgrenzung, bis die Schulleitung den Eltern sagte, sie könne nicht mehr für seine Sicherheit bürgen. Mit den Eltern und der Schwester flüchtete er via Schiffspassage nach Amerika, erlebte den emotionalsten Moment im Anblick der Statue of Liberty – und reiste mit einem Akkordeon ein, das der Vater ihm noch gekauft hatte, weil die Familie nicht so viel Bargeld mitnehmen durfte. Immer wieder stimmt der musikalische Levy Lieder aus der alten Heimat an – sie sind geblieben. „Oh, Du lieber Augustin, alles ist hin.“

Der Neuanfang gelang jedoch ohne Schwierigkeiten: „Für einen Teenager war das ein Abenteuer“, verrät er den Cramers im Film. Nach einem erfüllten Familien- und Berufsleben als Sozialarbeiter und Geschäftsführer einer jüdischen Gemeinde trat er für Ältere und Verwitwete ein, schrieb sich „Altern mit Humor“ auf die Fahne – wie Levy im Film agiert, vermittelt eine Ahnung davon. „Wir fühlten uns wohl in unserem Jüdischsein“, sagt er, auch wenn die Familie keinen koscheren Haushalt führte. Diskriminiert hat er sich nie gefühlt. Alles richtig gemacht.

Viele Partner gefunden

Ohne Partner wäre der Film nicht realisiert worden, Hauff-Cramer dankte Andreas Blum vom Studio Regenbogen, Gaby Drost vom Landkreis Goslar, der über das Bundesprogramm „Demokratie leben“ das Projekt gefördert hatte und in den Film einführte. Eingebettet ist das Projekt in den von Oliver Turk geleiteten Verein Spurensuche Harzregion, der die Ereignisse der zwölf Jahre von 1933 bis 1945 in Goslar untersucht. Hauff-Cramer dankte Kulturchefin Marleen Mützlaff als, ja, als was eigentlich? „Haus-Herrin?“ „Haus-Frau?“ „Haus-Dame?“ Es wurde nicht besser, also blieb der Gender-Versuch erfolglos und die „Hausherrin“ bestehen.

Eigentlich kommt es ja auch auf den Inhalt an, und der lautet: „Es war toll, mit dem Kulturamt zusammenzuarbeiten.“ Mützlaff bestätigte das langsame „Zusammenwachsen“ und sagte, es berühre sie, wie viele Menschen sich in Goslar für Demokratie und die Aufarbeitung der Schicksale jüdischer Bürger einsetzen.

Blick in eine Hälfte des Saals: Die Stolpersteine-Veranstaltung hatte guten Zuspruch. Vorne v.li.: Erika Hauff-Cramer, Stefan Cramer, Marleen Mützlaff, Dr. Kurt Fontheim. Foto: Kempfer

Blick in eine Hälfte des Saals: Die Stolpersteine-Veranstaltung hatte guten Zuspruch. Vorne v.li.: Erika Hauff-Cramer, Stefan Cramer, Marleen Mützlaff, Dr. Kurt Fontheim. Foto: Kempfer

Unter den zahlreichen Gästen, die den Raum Arcachon zur Filmpremiere füllten, wurden auch einige Nachfahren jüdischer Bewohner Goslars in der ersten Reihe willkommen geheißen. Dass mit dem Projekt so viele Jugendliche erreicht wurden, nicht zuletzt Dank der intensiven Zusammenarbeit mit der Adolf-Grimme-Gesamtschule in Oker und Lehrerin Sabine Rehse, freue sie besonders, sagte Hauff-Cramer und erinnerte an die eindrucksvolle Ausstellung „Sterne ohne Himmel“.

Zeitzeugen schwinden

Die Zeitzeugen werden weniger. Daher ist der Film über und mit Walter Levy ein umso wertvollerer Beitrag, wie Gaby Drost betonte – ein historisches Dokument, „Verpflichtung für uns alle“ zu Toleranz und Menschlichkeit und ein „lebendiges Beispiel, wie Menschen durch ihre Taten die Welt positiv beeinflussen können“. Das wirkt fort. Die AGG-Schüler schickten Levy eine filmische Nachricht nach Dallas und legten für ihn Steine auf das Grab der Großeltern in Goslar. „Vorurteile entstehen, wenn man die Menschen nicht kennt“, weiß Levy; ein allgemeingültiger Satz und eine Handlungsaufforderung.

Nach gebührendem Applaus für ein unterhaltsames und mit Herzblut erarbeitetes Zeitdokument gab’s den Blick in die Zukunft: In Goslar werde die Zahl der Stolpersteine weiter wachsen, verriet Stefan Cramer. Die Arbeitsgruppe tue immer neue Quellen auf und werde sich in Zukunft auch nichtjüdischen Naziopfern zuwenden; 13 neue Stolpersteine sind in Planung. Gesucht werden neue Bündnispartner, denn die enorme Rechercheleistung, die erbracht werden muss, sei nur von vielen zu leisten: „Es gibt einfach unglaublich viel zu tun.“

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