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Neue Therapien benötigt

Antibiotika wirkungslos: Mehr Infektionen mit resistenten Keimen

Eine Packung Antibiotika (M) und diverse andere Medikamente liegen auf einem Tisch in einer Apotheke. Foto: Monika Skolimowska/dpa

Eine Packung Antibiotika (M) und diverse andere Medikamente liegen auf einem Tisch in einer Apotheke. Foto: Monika Skolimowska/dpa

Die WHO spricht von einer „stillen Pandemie“. Bis 2050 könnten jährlich zehn Millionen Menschen an Infektionen mit resistenten Keimen sterben. Laut Experten braucht es dringend neue Antibiotika, doch deren Entwicklung stockt – Alternativen fehlen noch.

Montag, 28.11.2022, 15:30 Uhr

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Sie gehören zu den wichtigsten Errungenschaften in der Medizin-Geschichte: Antibiotika. Vor ihrer Entwicklung verliefen bakteriell verursachte Infektionen regelmäßig tödlich. Doch Experten warnen. Die Zahl der Todesfälle durch resistente Erreger steigt, die Entwicklung neuer Wirkstoffe stockt. Es drohe ein Rückfall in dunkle Zeiten, schreiben kanadische Forscher im Fachblatt „Science Translational Medicine“.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer „stillen Pandemie“. Ein Bericht im Auftrag der britischen Regierung kommt zu dem Schluss: Bis 2050 könnten jährlich zehn Millionen Menschen an Infektionen mit resistenten Keimen sterben.

Wie entstehen Resistenzen?

Es ist eine Horrorvorstellung: Man liegt mit einer entzündeten Wunde oder Lunge im Krankenhaus und kein Antibiotikum wirkt. Nach und nach werden die Medikamente ausprobiert, ohne Erfolg. Die Zeit rennt davon, der Körper baut schnell ab, Organe fallen aus, am Ende steht der Tod.

Eine Resistenz gegen Antibiotika ist Teil der Evolution, also eine natürliche Entwicklung. Sie bedeutet, dass Bakterien Abwehrstrategien gegen Wirkstoffe oder -mechanismen entwickeln. Resistenzen entstehen überall dort, wo Antibiotika eingesetzt werden. Im ambulanten medizinischen Bereich, vor allem aber in Krankenhäusern und dort auf Intensivstationen. Auch aus der Landwirtschaft – konkret bei der Fleischproduktion – sind Aufkommen und Übertragung auf den Menschen bekannt, entweder durch den Kontakt zum Tier oder den Verzehr belasteter Lebensmittel.

Die Entwicklung einer Resistenz „geschieht sprunghaft und unvorhersehbar“, sagt Professor Mathias Pletz, Direktor des Instituts für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum in Jena. Die Erreger hebelten die sie hemmenden Wirkstoffe dabei auf mehreren Wegen aus: durch Aufspalten, Ausleiten oder Aussperren.

Wie ist die Situation in Deutschland?

Antibiotika-Resistenzen werden vom Robert-Koch-Institut (RKI) beobachtet. „Es gibt in Deutschland pro Jahr ungefähr 50.000 Erkrankungen mit multiresistenten Keimen. Zwei Drittel davon werden im Krankenhaus erworben“, sagt Tim Eckmanns, Leiter der Resistenz-Überwachung beim RKI. Etwa 2500 Männer und Frauen würden daran versterben.

Der bekannteste multiresistente Keim ist der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus, kurz MRSA. Er ist vornehmlich auf der Haut zu finden und für gesunde Menschen unproblematisch. „Aus klinischer Sicht ist MRSA heute nicht mehr so problematisch wie in der Vergangenheit“, sagt Mathias Pletz. Laut RKI ist die Zahl der Fälle in den vergangenen Jahren stark gesunken. Grund dafür sind Pletz zufolge verbesserte Hygienekonzepte und der Einsatz von Ersatzwirkstoffen. Anders ist die Situation beim Boden- und Wasserkeim Pseudomonas aeruginosa sowie dem Darmkeim Enterococcus faecium. Hier steigen die Zahlen. „Woran das genau liegt, ist noch unklar“, sagt Eckmanns. Problematisch sind diese Keime vor allem deshalb, weil sie sich anders als MRSA in Krankenhäusern nicht durch eine Waschung entfernen lassen. „Den Darm kann man bisher nicht sanieren“, erklärt Pletz.

Wie ist die globale Situation?

Im Ausland ist das Problem zum Teil bedeutend größer, auch in Europa – in Griechenland etwa, in Italien oder einigen Staaten Osteuropas. Global betrachtet sind in Bezug auf Todesfallraten pro Bevölkerungszahl aber vor allem Afrika und Südasien betroffen. Weil resistente Keime sich wie Viren verbreiten können, etwa durch Reisen, müsse das Problem auch weltweit betrachtet werden, so das RKI.

Eine Anfang des Jahres im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichte Studie aus den USA zeigt das gesamte Ausmaß des Problems: Demnach starben 2019 weltweit mehr als 1,2 Millionen Menschen unmittelbar an einer Infektion mit einem Antibiotika-resistenten Erreger, in Europa waren es etwa 35.000, Tendenz steigend. Bei fast fünf Millionen Todesfällen sei eine solche Infektion mitverantwortlich für den Tod gewesen, schreiben die Forscher der University of Washington.

Wie kann die Situation verbessert werden?

Laut RKI braucht es gute Hygiene und mehr Experten in Kliniken, einen zielgerichteten und maßvollen Einsatz von Antibiotika, eine bessere Analyse von Erregern auch in Arztpraxen, wo 85 Prozent der Antibiotika verschrieben werden: „Wir brauchen vereinte Anstrengungen auf klinischer, hygienischer, mikrobiologischer und epidemiologischer Seite und auch immer wieder neue Medikamente, um das Problem in den Griff zu bekommen“, sagt Tim Eckmanns.

„Ohne neue Substanzen wird es nicht gehen, das muss man klar sagen“, erklärt auch Mathias Pletz. Seiner Einschätzung nach halten neue Wirkstoffe nach Marktreife und breitem Einsatz im Mittel 10 bis 15 Jahre, bis sie stark an Wirksamkeit einbüßten. Noch gebe es einige Reserveantibiotika, fielen auch diese aus, drohe eine schwierige Situation.

Welche Probleme gibt es bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe?

Das letzte zugelassene neue antibiotische Wirkprinzip stammt laut einer Studie des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung aus den 1980er-Jahren. Es koste viel Zeit und etwa eine Milliarde Dollar, um eine neue Substanz zu entwickeln, sagt Pletz. „Und wenn die dann fertig ist, passiert Folgendes: Wir Infektiologen stellen uns hin und sagen: ,Toll, wir haben eine neue Substanz. Die legen wir jetzt mal ganz nach hinten, damit wir sie nicht verbrennen.‘“

In der Konsequenz führe das dazu, dass neue Antibiotika für die Pharmafirmen ein Verlustgeschäft seien. „Sie investieren in etwas, was nicht oder wenig eingesetzt wird“, so Pletz. Und nach Ablauf des Patents kämen dann andere Hersteller und stellten billigere Nachahmerprodukte her.

Dies sei ein Grund dafür, warum die Entwicklung aktuell eher von Idealisten oder kleinen Start-ups vorangetrieben werde, die weniger schlagkräftig seien. Die Politik, so Pletz, habe das Problem aber erkannt und arbeite an einem Anreizsystem. Dies könnten etwa längere Laufzeiten der Patente sein oder von der öffentlichen Hand gezahlte Vorhaltepauschalen.

Phagen, Antikörper, Modulatoren – Alternative Ansätze in der Forschung

Um Antibiotika zu ersetzen, wird weltweit auch mit alternativen Ansätzen experimentiert, etwa mit Bakteriophagen. Das sind Grppen von Viren, die auf die Zerstörung von Bakterien spezialisiert sind. „Hier gibt es spektakuläre Einzelbeobachtungen, aber bisher fehlen große Studien für die klinische Wirksamkeit“, sagt Professor Dirk Bumann vom Nationalen Forschungsschwerpunkt „Neue Ansätze zur Bekämpfung Antibiotikaresistenter-Bakterien“ in der Schweiz. Ein anderer populärer Ansatz sei die Antivirulenz. „Dabei versucht man nicht, die Keime selbst umzubringen, sondern sie an ihrer krank machenden Wirkung zu hindern“, so Bumann. In den vergangenen zehn Jahren habe zu vielen alternativen Ansätzen enorm viele schmerzhafte Fehlschläge gegeben. Das gelte auch für Antikörper gegen die Toxine von Bakterien und sogenannte Immunmodulatoren, die nicht den Keim selbst angreifen, sondern das Immunsystem fit machen sollen, um mit dne Infektionen besser umzugehen. „Weitere innovative Ansätze in der Forschung sind besonders wichtig“, so Bumann. „Und wir müssen hoffen, dass ein paar von denen funktionieren.“

Von Kai Wiedermann, Funke-Mediengruppe

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