„Deutschland war schon immer ein strategisches Ziel“

Tim Thies spricht im Haus der Kirche über die aktuelle Sicherheitslage in Europa. Foto: Privat
Tim Thies vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik war jetzt im Bad Harzburger Haus der Kirche zu Gast. Auf Einladung der Pax-Christi-Gruppe sprach er über die aktuelle Sicherheitslage Europas.
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Bad Harzburg. Frieden schaffen ohne Mittelstreckenwaffen? Über diese Frage hat sich im Haus der Kirche jetzt Tim Thies Gedanken gemacht. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und war jetzt auf Einladung der Pax-Christi-Gruppe und im Rahmen der Friedensdekade zu Gast in Bad Harzburg.
Die geplante Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise-Missile-Marschflugkörpern Ende der 1970er Jahre habe eine große Protestbewegung in der damaligen Bundesrepublik hervorgerufen. Als dagegen im Juli dieses Jahres Bundeskanzler Olaf Scholz auf einer USA-Reise die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenwaffen ab dem Jahr 2026 in Deutschland angekündigt habe, sei es nahezu ruhig im Land geblieben. Und dies sei nicht der einzige Unterschied: Der sogenannte Nato-Doppelbeschluss sei damals mit einem politischen Angebot zur Verhandlung an die Sowjetunion verbunden gewesen, die jetzige geplante Stationierung dagegen sei Teil einer amerikanischen Militärstrategie ohne Verhandlungsangebot.
Klare Strategie
Während 1987 das gegenseitige Wettrüsten durch die Unterzeichnung des INF-Vertrages zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenwaffen unterbrochen wurde, erlebe es gerade eine Wiederbelebung, sagte Thies. Unter dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump ist die USA aus diesem Vertrag ausgestiegen, Russland wurde beschuldigt, den Vertrag gebrochen zu haben.
Ohne Zweifel, so Thies, habe Russland in Kaliningrad Mittelstreckenwaffen stationiert, die auch Deutschland bedrohen. Die nun von den USA angekündigte Stationierung sei allerdings keine „verspätete Reaktion“ darauf, sondern Bestandteil der sogenannten MultiDomainTaskForce der amerikanischen Streitkräfte. Diese wolle im Falle eines russischen Angriffs auf Nato-Gebiet die Bewegungsfreiheit der amerikanischen Streitkräfte sichern und darum Ziele weit im Hinterland Russlands angreifen können, die die eigenen Truppen bedrohen. Auch sei Deutschland im Falle eines Angriffs kein neues Ziel für Russland, erklärte Thies. Deutschland sei die logistische Drehscheibe der Nato und darum schon immer ein strategisches Ziel.
Wo ist der Protest?
Tim Thies, der in seinem Vortrag sehr viele technische Details zu neuen Waffen erläuterte, wünschte sich von der Politik mehr Ansätze, um Risiken einzuhegen, Bedrohungsszenarien einzuschränken und Abrüstungsangebote an Russland, wie in den 1980er Jahren. Natürlich sehe auch er, dass die Aussichten auf Rüstungskontrolle eher schlecht seien, doch ohne Angebote an Russland gingen sie seiner Meinung nach gegen Null.
Die Friedensbewegung Pax Christi hatte sich gleich nach der Ankündigung des Bundeskanzlers im Juli gegen die Stationierung „weitreichender US-amerikanischer Waffensysteme in Deutschland“ ausgesprochen und gefordert, die Aufrüstungsspirale zu durchbrechen, erinnerte sich Joachim Hoffknecht von Pax Christi schon in seiner Anmoderation zu Beginn der Veranstaltung. Doch wo bleibe der große Protest der 70er und 80er Jahre, fragte sich der eine oder andere aus dem Publikum. Kritik gab es auch an der fehlenden politischen Legitimität dieser geplanten Stationierung, die ohne Bundestagsdebatte, geschweige denn Beschluss, verkündet worden sei. Und es wurde die Militarisierung der politischen Sprache kritisiert. Von „Kriegstüchtigkeit“ und „Verteidigungsfähigkeit“ sei jetzt die Rede. Dies führe zu einer gesellschaftlichen Gewöhnung an Waffensysteme, Bedrohungsszenarien und Aufrüstungsspiralen.
Zum Ende des Abends blieben viele Fragen offen: Wo sind die Friedenshoffnungen der Jahrtausendwende geblieben? Was ist falsch gelaufen? Wo sind die Menschen der Friedensbewegung geblieben, die sich in die Debatten über neue Stationierungen einmischen? Dies könne man nicht den rechten und linken Rändern der Politik überlassen, so der Tenor.