Papa muss abnehmen: Schwer wiegende Folgen

Verführerische Süßigkeiten: Zur Adventszeit schmecken sie besonders gut, aber bei manchem drückt auch die Waage. Foto: Pixabay
„Mein schönstes Weihnachtsfest“ heißt unsere GZ-Adventsserie. Leserinnen und Leser schreiben Geschichten, die ermuntern, besinnlich sind, Hoffnung geben – gerade auch im zweiten Corona-Jahr. Margitta Klein erzählt ihre fröhliche Geschichte über ein Weihnachtsfest in den 1950er Jahren – und wahrlich schwer wiegende Folgen:
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Hahndorf. Es war einen Tag nach Weihnachten. Über Nacht hatte es erneut geschneit. Der eisige Ostwind trieb die Schneeflocken mit einem hörbaren Plop gegen die mit Eisblumen geschmückten, fast undurchsichtigen Fensterscheiben.
In unserer Küche und im Wohnzimmer war es dank unseres reichlichen Holz- und Kohlevorrats warm und gemütlich. Unser Leben erschien uns nach den Festtagen glücklich. Schöne Geschenke, Nützliches zum Anziehen, ein Buch und eine Tafel Sarotti Vollmilch-Schokolade lagen auf unserem Gabentisch. Wie jedes Jahr wünschten wir uns Schnee zum Fest wie früher in Ostpreußen. Meine Schwester hatte Schulferien, und ich als Lehrling hatte Urlaub bis nach Neujahr.
Mitte November hatten meine Eltern ein Schwein geschlachtet. In der Wurstkammer hingen die unterschiedlichen, frisch geräucherten Köstlichkeiten mit verheißungsvollem Duft für zukünftige Genüsse. In den Regalen im Wirtschaftskeller standen Gläser mit eingekochtem Fleisch, Gemüse und Obst. Etliche Flaschen mit Saft aus roten und schwarzen Johannisbeeren aus unserem Garten und Flaschen mit Saft aus Fliederbeeren, die meine Großeltern gesammelt und mit viel Mühe entsaftet hatten.
Glücklich genossen wir unsere ungewöhnlich reichhaltigen Speisen mit einem exzellenten Braten am ersten Feiertag mit Mutters köstlicher Sahnesoße. Buttercremetorte, gekonnt garniert, gab es zum Kaffee – und natürlich selbst gebackene Kekse mit und ohne Schokoladenüberzug, die wir in den ersten Dezember Tagen gemeinsam gebacken hatten.
Aus gutem Grund verschwand dies alles bis Heiligabend. „Ich kenne euch“, meinte Mutter, „Weihnachten ist nichts mehr da.“ Und sie blickte Vater, meine Schwester und mich streng an. Kurz nach dem Fest stand Papa mit sorgenvoller Miene im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank und suchte nach Hosen mit Bauchweite, die schon einmal passend verändert wurden. Über die Feiertage hatte er einige Kilo zugenommen, und seine besorgte Ehefrau, die mehr auf seine Gesundheit achtete als er, mahnte mit sorgenvoller Miene: „Wenn das mal gut geht ...“
„Kannst du die Hosen nicht noch etwas weiten?“, fragte Vater. Ihre Antwort kannte er bereits aus früheren Gesprächen. Er fühlte sich unsicher mit seiner Bitte, verteidigte sich sogleich, denn ehe seine Frau antworten konnte, meinte er: „Ja, aber du kochst auch immer so gut, und es schmeckt mir halt. Kannst dich doch freuen!“
Lob erschien in diesem Fall als ein gutes Mittel, Mama sozusagen „weichzukochen“. „Ach so, und nun bin ich schuld, nur weil du dich beim Essen nicht beherrschen kannst“, antwortete Mutter knapp. „Nein, nein so war es nicht gemeint“, entgegnete er beschwichtigend. „Was hältst du vom Abnehmen? Ich werde deine Hosen nicht mehr weiten. Will nicht schuld sein, wenn du immer schlechter Luft bekommst!“ Wenn seine Frau derart deutliche Worte sprach, wusste Vater, es gab keine Chance, dass seine Liebste sich an die Nähmaschine setzte. „Aber du weißt doch, es nützt nichts, ich nehme gleich wieder zu. Warum soll ich mich wieder und wieder quälen.“ Ein letzter vager Versuch, den Plänen meiner Mutter noch auszuweichen.
Am nächsten Tag blinzelte er verstört auf seine Mittagsmahlzeit. „Was soll das, wie soll ich davon satt werden und meine Stallarbeit schaffen?“, brummte er mürrisch und bedachte uns Töchter mit schrägem Blick, weil wir belustigt kicherten. Als Nachtisch lag wegen der Verdauung ein Apfel aus eigener Ernte bereit. Sein geliebtes Frühstücksei blieb unserem Vater immerhin erhalten.
Und tatsächlich, nach nur drei Wochen zeigte die Waage Gewichtsverlust an. FdH, fettarme Speisen mit mehr Gemüse als Fleisch, so gewöhnte sich unser wohlbeleibter Herr Papa tapfer an Mutters Essensplan. Wir lobten ihn, bewunderten seine innere Stärke. Abnehmen, das wussten wir von Vaters Schwestern, war ein äußerst schwieriges Unterfangen. Ende Januar kündigte unsere Tante, Papas ältere Schwester, ihren Besuch an. „Aber Brüderchen, sag‘ nur, bist du krank?“, erkundigte sie sich sogleich nach einer herzlichen Begrüßung, strich leicht irritiert mit ihrer Hand über seinen Bauch und betrachtete besorgt sein Gesicht. „Dein Bruder hat abgenommen. Es war nötig“, erklärte Mutter knapp mit einem abschätzenden Blick auf die Leibesfülle ihrer Schwägerin. „Ach so, ach so. Na ja, das ist ja schön.“ Wo blieb ihre Begeisterung?
Beim Mittagessen fragte Tante nach einer weiteren Scheibe Braten, die ihr Mutter mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck reichte. „Bitte noch ein wenig Soße, sonst ist mir das Fleisch zu trocken.“ „Mein Braten ist nicht trocken“, (mit der Betonung auf mein) entgegnete Mutter spitz, und Tantchen sprach beschwichtigend, sich aus ihrem offensichtlichen Fettnäpfchen befreiend: „Nein, nein, dein Braten ist köstlich, und deine Soße ist wieder hervorragend – wie bei unserem Muttchen in Ostpreußen.“
Anfang Februar stagnierte Vaters Gewichtsabnahme ohne erkennbaren Grund. Sein Hosenbund kniff nicht mehr unangenehm. Er fühlte sich gut. Sogar besser als je zuvor. Nur zugeben würde er seine schwer erkämpfte Leichtigkeit niemals. {picture1S}
Seit etwa zwei Wochen hatte Vater sich angewöhnt, nach dem Mittagessen für einige Minuten in unsere Scheune zu gehen. „Was machst du nur dort?“, fragte seine Frau (noch) arglos. „Ach, nichts weiter. Ich schau nur nach unserem Auto. Du weißt doch, dass ich dort im Winter Ratten entdeckt habe. Sie können erheblichen Schaden an unserem Auto anrichten.“
Mutters Arglosigkeit schwand jedoch täglich. Warum nahm er nicht weiter ab? Irgendwas stimmte hier absolut nicht.
„Mutti, schau doch mal heimlich nach, was Papa in der Scheune treibt“, meinte ich. Und wieder verschwand Vater am nächsten Tag nach dem Mittagsmahl in der Scheune. Leise und vorsichtig schlich Mama ihm nach, stellte sich hinter die halb offene Scheunentür. Ihr Mann stand am geöffneten Kofferraum seines Pkw, entnahm dem großen Bananenkarton, in dem normalerweise die Einkäufe verstaut wurden, den kleineren Teil des Kartons und brachte einen Pralinenkasten von beträchtlicher Größe zum Vorschein. Er entnahm ihm einige Leckereien, verspeiste diese hoch zufrieden nacheinander in aller Seelenruhe, verstaute alles wieder sorgfältig und schloss behutsam den Kofferraum.
Mutter eilte in die Küche zurück. So ein Schlawiner, dachte sie, mehr belustigt als erbost, und beschäftigte sich mit dem Abwasch des Mittagsgeschirrs. „Ich lege mich ein Stündchen zum Mittagsschlaf hin“, meinte Vater und verschwand in der offenen Küchentür. „Warum hast du mir denn keine Praline mitgebracht?“, fragte Mama mit süffisanter Stimme. Abrupt drehte Vater sich um, kam zurück in die Küche: „Du weißt ...?“ Erschrocken beäugte er seine Frau, forschte in ihrem Gesichtsausdruck.
„Da kann ich lange auf weitere Gewichtsabnahme von dir warten“, meinte sie nicht ganz ernst. „Bist mir wirklich nicht böse? Du, ich gehe gleich zurück in die Scheune und hole den Kasten Pralinen – und zum Kaffee essen wir den Rest auf.“
Als ich am Abend gegen 19 Uhr müde von meiner Arbeit nach Hause kam, saßen meine Eltern gemeinsam im Wohnzimmer auf dem Sofa. Vor ihnen stand ein leerer Pralinenkasten. „Und? Habt ihr mir eine Praline übrig gelassen ...?“

Papa muss abnehmen: Margitta Klein erzählt eine muntere Weihnachtsgeschichte aus ihrer Familie. Foto: Privat