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Motorradfahrer floh und starb

Mit Tempo 180 im Kreis Helmstedt auf der Flucht in den Tod

Ein Blaulicht leuchtet auf dem Dach eines Polizeiwagens.

Ein Blaulicht leuchtet auf dem Dach eines Polizeiwagens.

Ein Motorradfahrer starb, als er sich einer Kontrolle auf der Bundestraße 244 entziehen wollte. Verfolgungsfahrten sind Thema in der Polizeiausbildung.

Mittwoch, 08.06.2022, 13:30 Uhr

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Wolfsburg. Nach allem, was bislang über die tödliche Motorrad-Flucht am Montagabend auf der Bundesstraße 244 bekannt geworden ist, nahm der 51 Jahre alte Fahrer wenig Rücksicht – weder auf sein eigenes Leben, noch auf das seines 55-jährigen Begleiters auf dem Soziussitz seiner Sporttourer, der lebensgefährlich verletzt wurde. Vielmehr wirkt es fast wie ein Wunder, das unbeteiligte Verkehrsteilnehmer nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden.

An Streife vorbei

Im Tempo-100-Limit auf der A2 Höhe Anschlussstelle Braunschweig-Flughafen hatte der 51-Jährige „mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ ausgerechnet eine Zivilstreife der Autobahnpolizei Braunschweig überholt, teilte die Sprecherin der Polizeiinspektion Wolfsburg-Helmstedt, Melanie aus dem Bruch, mit.

Die Beamten setzten sich dahinter. Sie erkannten, dass auf dem Motorrad-Kennzeichen die Tüv- und Zulassungsstempel reine Fantasieaufkleber waren. „Die Überprüfung des Kennzeichens über die Leitstelle ergab, dass es abgemeldet war“, berichtet aus dem Bruch.

Der Fahrer besaß keine Fahrerlaubnis mehr. Auf sein Motorrad wollte er offenbar aber nicht verzichten. Hinweise auf weitere Straftaten, die im Zusammenhang mit der Benutzung des gefälschten Kennzeichens stehen könnten, gibt es nicht, stellte die Polizeisprecherin klar. „Aber dazu werden wir auch noch den Mitfahrer befragen, wenn sich dessen Gesundheitszustand gebessert hat.“

Starkregen setzte ein

Beide Männer sind deutsche Staatsangehörige. Der Fahrer kam aus Schöningen, der Sozius aus Hannover. Ob die Männer früher strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, dazu machte aus dem Bruch keine Angaben. Erkenntnisse, ob das Duo in Verbindung mit Motorradclubs steht, gebe es keine.

Zeitweise beschleunigte der Fahrer sein Motorrad auf der A2 bis auf Tempo 180, trotz des zu der Zeit hohen Verkehrsaufkommens und des einsetzenden Starkregens im Bereich des Autobahnkreuzes Wolfsburg, wies aus dem Bruch hin. Die Polizei wollte den Kradfahrer im Bereich Helmstedt stoppen, doch er fuhr an der Anschlussstelle Helmstedt-West ab, steuerte von dort auf die B244 in Richtung Schöningen.

Dabei umfuhr er einen Funkstreifenwagen vom Polizeikommissariat Helmstedt, der als Anhalteposten auf einer Kreuzung stand. Anhaltesignale ignorierte der Fahrer. Nachdem er die Fahrzeugsperre umfahren hatte, gab sich nun auch der Zivilwagen zu erkennen und fuhr weiter mit eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn. Ein weiterer Streifenwagen war an der Verfolgung beteiligt.

Gleichwohl entschlossen sich die Beamten, einen größeren Abstand zum Motorrad einzuhalten. Die Flucht endete nach etwas mehr als 40 Kilometern in einer Linkskurve kurz vor dem Kraftwerk Buschhaus. Dem Motorrad kamen zwei Autos entgegen. Der 51-Jährige wich aus, verlor die Kontrolle über das Krad. Noch vor Ort kämpften Rettungssanitäter um sein Leben – vergeblich.

Verhältnismäßigkeit

„Solche Einsätze sind nicht alltäglich. Die wünscht sich kein Beamter. Aber sie kommen leider auch vor. Deshalb bereiten wir uns auf sie vor und trainieren sie“, sagt Uwe Albers. Der Polizeidirektor ist Dozent an der Polizeiakademie Niedersachsen (Nienburg/Weser), dort verantwortlich für das Studiengebiet Einsatz- und Verkehrslehre.

Dass ein Streifenwagen die Verfolgung eines Fahrzeugs aufnimmt, ist möglich, wenn der Verdacht auf eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit besteht, oder wenn der flüchtende Fahrzeugführer sich sowie andere Verkehrsteilnehmer gefährdet. Bei der Wahl der Mittel, die Polizisten einsetzen können, gilt immer, dass sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten müssen. Albers: „Eine Verfolgungsfahrt ist angemessen, so lange das Risiko für Unbeteiligte ebenso wie für die Beteiligten – das gilt für den Führer des Fahrzeugs, das verfolgt wird, ebenso wie für die Beamten – noch in einem angemessenen Verhältnis steht zu den gefährdeten Rechtsgütern.“ Den Entschluss, eine Verfolgung aufzunehmen, können die Beamten im Streifen- oder Zivilwagen selbst treffen.

Eine Verfolgungsfahrt bei Hochgeschwindigkeit wird in der Ausbildung nicht simuliert. Ist denn dann jeder Beamte dafür geeignet? Albers erklärt, die Polizeistudierenden würden in der Akademie das notwendige theoretisch-taktische Rüstzeug mit auf ihren Weg bekommen. Doch was ist mit dem Jagdfieber, einen Flüchtenden nicht entkommen zu lassen – können sich Ordnungshüter davon frei machen? „Das kann durchaus eine körperliche Reaktion sein“, räumt Albers ein, „aber je mehr man als Polizeibeamter über dieses Phänomen und seine Entstehung weiß, umso stärker ist man davor – ähnlich wie vor Stress – gerüstet.“

Eine Mauer aus Polizeifahrzeugen, die einem Flüchtenden in seinem Fahrzeug keine andere Chance lässt als mitten hineinzupreschen, so wie man es aus Spielfilmen kennt, werde man in Deutschland nicht erleben, stellt Albers klar. „Sperren mit Polizeifahrzeugen werden so aufgestellt, dass ein Flüchtender möglichst die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs vermindern muss, er aber immer noch unversehrt aus der Situation herauskommen kann.“

Dass ein Polizeifahrzeug das Fahrzeug eines Flüchtenden abdrängt oder gar rammt, sei eine absolute Ausnahme. „Wenn man dieses Zwangsmittel anwendet, muss die Gefahr, die von dem Fahrzeugführer ausgeht, schon ganz erheblich sein. Das ist auch nur bei geringen Geschwindigkeiten zulässig.“

Immer neu bewerten

Die Entscheidung, eine Verfolgung aufzunehmen, in Sekundenschnelle zu treffen, ist Übungsalltag an der Polizeiakademie. „Ein Beamter trifft aber nicht einmal die Entscheidung, einen Flüchtenden zu verfolgen, und zieht das dann mit aller Konsequenz durch. Sondern er muss sich sein weiteres Handeln im Einsatz fortwährend hinterfragen, und immer wieder neu bewerten, ob es noch situationsangemessen ist“, erklärt Albers. Diese Lagebeurteilung kann schließlich dazu führen, dass eine Verfolgung abgebrochen wird, wenn das Risiko zu groß wird. „Das bedeutet aber nicht, dass die Polizei den Strafverfolgungsanspruch aufgibt oder die Gefahren nicht abwehrt. Die Polizei verfügt dann über weitere Mittel, um das flüchtige Fahrzeug noch zu stellen.“, sagt Albers. Von Henrik Rasedorn, Funke Medien Gruppe

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