Zähl Pixel
Tochter von Joachim Gauck zu Gast

Liebenburger Landfrauen hören Vortrag über Kindheit in der DDR

Gesine Lange (rechts) erzählt den Liebenburger Landfrauen über ihre Kindheit und Jugend in der DDR. Foto: Hartmann

Gesine Lange (rechts) erzählt den Liebenburger Landfrauen über ihre Kindheit und Jugend in der DDR. Foto: Hartmann

Die Liebenburger Landfrauen hatten sich Gesine Lange, die Tochter des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, eingeladen. Sie erzählte über ihre Kindheit und Jugend in der DDR und das Leben als Pastorentochter unter FDJ-Mitgliedern.

Von Petra Hartmann Sonntag, 15.10.2023, 09:00 Uhr

Für nur 0,99 € alle Artikel auf goslarsche.de lesen
und im ersten Monat 9,00 € sparen!
Jetzt sichern!

Liebenburg. Kindheit und Jugend in der DDR – wie war das als Pastorentochter, die nicht zu den Pionieren ging, sondern zur Kirche? Gesine Lange, Tochter des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, hatte viel zu erzählen, als sie am Donnerstagabend bei den Liebenburger Landfrauen zu Gast war.

Rund 40 Zuhörerinnen und ein Zuhörer waren ins evangelische Gemeindehaus gekommen und erlebten einen spannenden Abend mit einer vor Energie und Redelust geradezu übersprudelnden Referentin. Geboren wurde sie 1967 als jüngere Schwester zweier Brüder, eine weitere Schwester folgte erst viel später. Die Mauer war für sie von Anfang an Realität. Wenn die Erwachsenen sich am Geburtstag des Großvaters, am 13. August, immer über den Mauerbau unterhielten, fand sie es einfach nur langweilig: „Für mich war die immer da.“ Als Tochter eines Pastors und mit der Kirche verbandelt, das hieß für die Kinder auch: „keine Anerkennung außerhalb des Raums der Kirche“.

Charles Darwin, Sigmund Jähn und das christliche Weltbild

Wie steht man da als einzige Christin in einer Klasse voller junger Pioniere und FDJ-Mitglieder? Für die Lehrerin sei eine solche Schülerin eine stete Quelle des Missvergnügens – Zielscheibe und Opfer. Als gelehrt wird, dass der Mensch vom Affen abstammt, wird die Schülerin vorgeführt, wird belächelt wegen der biblischen Geschichte über Lehm und eine Rippe. Als Sigmund Jähn, der erste Deutsche im All, zur Erde zurückkehrt, soll die Pastorentochter natürlich auch bloßgestellt werden.

„Na, Gesine, was sagst du dazu, dass er dort oben gar keinen Gott gesehen hat?“ Doch da kam die Lehrerin ganz offensichtlich an die falsche Adresse: Luft könne man ja auch nicht sehen, sagt sie entschlossen. Und die sei doch da und unverzichtbar. Könne man Liebe sehen? Oder Hoffnung? Die Lehrerin bricht ab: „Mathebücher herausnehmen“, heißt es. „Schlagt Seite 12 auf.“ Punktsieg, aber Freunde macht man sich so nicht. Einmal hatten sie ein paar Freundinnen zur Karnevalsfeier der FDJ eingeladen. Die Christin ließ sich überzeugen. Kurz darauf erhält die Mutter einen Brief: „Gesine muss lernen, dass sie sich nicht nur die Rosinen herauspicken kann.“ Dann eben nicht – entscheidet die Schülerin. Und so wurde es auch nichts mit der Mitgliedschaft.

Gasmasken und Fahnen im Unterricht

Einige alte Schulbücher hatte sie mitgebracht. Ein Lob der Nationalen Volksarmee. Der Bau einer eigenen Gasmaske aus Plastiktüte, Taschentuch und Schal. Fahnen wie die Schwarzrotgoldene mit Zirkel und Hammer im Ährenkranz musste sie zeichnen, die rote der Sowjetunion, die blaue der FDJ. Vokabeln wie antifaschistischer Schutzwall, Proletariat, Brudervolk lernte sie. Brudervolk habe ich auch zu Hause, dachte sie – aber haben die beiden auch eine Fahne? Engagement, Fleiß und anständiges Benehmen, das war für die wenigen „Exoten“, die sich zur christlichen Gemeinde zählten, fast eine Pflicht. Die Leute sollten schon sagen: „Na guck mal an, die ist nicht bei den jungen Pionieren und hat trotzdem eine Eins geschrieben, und jetzt hilft sie auch noch der alten Frau über die Straße – wie kann das angehen?“

Ein Telefon zum Abhören

Im Pfarrhaus gab es ein Telefon, erinnert sie sich. Ein Luxus, aber kein harmloser. Der Pastor habe das Gerät erhalten, damit man die Gespräche abhören konnte. Lange erzählt von den strengen Auflagen, unter denen ihr Vater Kontakt mit den Rostockern aufnehmen durfte. Er durfte nur an den Türen von Gemeindegliedern klingeln. „Guten Tag, ich bin der Pastor dieses Wohngebietes, und wenn Sie evangelisch sind, dürfen Sie mich gern zu sich einladen und sich mit mir unterhalten.“ Niemals selbst eine Einladung aussprechen, erst recht nicht an Nichtmitglieder. „Sonst hätte schon jemand gesagt: „Kommen Sie mal mit, wir müssen uns mal miteinander unterhalten“, sagt sie. Langes Stasi-Akte ist relativ übersichtlich, vor allem verglichen mit den zwölf dicken Leitz-Ordnern mit Berichten, die die Behörde über ihren Vater gesammelt hatte. „Wenn sie es schaffen, dir Angst zu machen, dann haben sie dich“, diesen Satz ihres Vaters zitiert sie mehrfach. Ja, es war ein gefährdetes Leben, wenn man sich nicht einrichtete und den Mund hielt. Aber Angst machen sollte sie sich nicht machen lassen.

Die beiden Brüder beschlossen schließlich, einen Ausreiseantrag zu stellen. Dreieinhalb Jahre habe das gedauert. Als sie sich in einen Mann aus dem Westen verliebte, ging es etwas schneller: „Ich wollte ja ‚nur‘ heiraten, nicht dem Sozialismus den Rücken kehren“, sagt sie. So kam sie 1989, drei Monate vor dem Mauerfall, in den Westen. Sie ahnte nicht, dass sie bald problemlos die Grenze in beide Richtungen überqueren konnte.

Die Goslarsche Zeitung gibt es auch als App: Einfach downloaden und überall aktuell informiert sein.

Diskutieren Sie mit!
Weitere Themen aus der Region