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GZ-Adventsserie 2021

Der geplatzte Traum auf Schienen

Die Spielzeugeisenbahn zu Weihnachten: Für viele Kinder früher ein sehnlicher Wunsch.  Foto: Ladenburger Spielzeugauktion

Die Spielzeugeisenbahn zu Weihnachten: Für viele Kinder früher ein sehnlicher Wunsch. Foto: Ladenburger Spielzeugauktion

„Mein schönstes Weihnachtsfest“ heißt unsere GZ-Adventsserie. Leserinnen und Leser schreiben Geschichten, die ermuntern, besinnlich sind, Hoffnung geben – oder von geplatzten Weihnachtsträumen erzählen. Wie die Geschichte, die Gerhard Becker aus Hahndorf in seiner Kindheit erlebt hat:

Mittwoch, 08.12.2021, 09:00 Uhr

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Hahndorf. Es war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In den Geschäften gab es wieder alles zu kaufen. Dazu gehörte auch Spielzeug. Mein Bruder und ich hatten uns schon seit Jahren eine Eisenbahn zum Aufziehen gewünscht. Nun stand sie da im Schaufenster des Geschäfts von Minna Gereke in der Bahnhofstraße in Oker. Wir drückten uns an der Schaufensterscheibe die Nasen platt. Würden wir in diesem Jahr zu Weihnachten eine Eisenbahn bekommen?

Ein paar Tage vor Weihnachten stand die Eisenbahn plötzlich nicht mehr im Schaufenster. Sie war weg. Hatte sie vielleicht „der Weihnachtsmann“ für uns geholt? Würden wir sie bekommen, wäre es in diesem Jahr unser schönstes Weihnachtsfest. Wir fieberten dem Heiligen Abend entgegen. Wir glaubten zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber es würde ja trotzdem Geschenke geben.

Dann war der Heilige Abend endlich da. Die Stube war mollig warm, die Kerzen brannten am Weihnachtsbaum, und wir Kinder warteten darauf, in die Stube gelassen zu werden. Natürlich waren wir aufgeregt. In der Hoffnung, die heiß ersehnte Eisenbahn vorzufinden, traten wir ein. Wir konnten es kaum glauben: Dort stand die Eisenbahn! Unser Wunsch war erfüllt worden. Uns durchzog ein unbeschreibliches Gefühl, es würde unser schönstes Weihnachtsfest werden. Meinem Bruder, der etwas älter ist als ich, gehörte der Vortritt zur Eisenbahn. Er durfte die Lokomotive aufziehen. Mit großer Freude drehte er den Schlüssel und spannte die Feder. Dann setzte er die Lokomotive auf die Schiene und löste den Bremshebel.

Im selben Moment gab es einlautes zischendes Geräusch in derguten Stube, und die ersehnteLokomotive sprang etwa einenhalben Meter hoch. Aus ihrem Bauch quoll die Aufzugsfeder, denn die Befestigung der Feder war abgerissen. Nicht nur wir, auch die Verwandten, die Heiligabend bei uns zuBesuch waren, zeigten sich wie erstarrt. Dann flossen die Tränen bei uns, und Schluchzen durchzog unsere Körper. Das Spiel war aus, ehe es angefangen hatte.

Das, was damals unser schönstes Weihnachtsfest werden sollte, war plötzlich zu unserem traurigsten geworden.

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