Sehnsucht nach Ruhe und Harmonie

Die Kirche in Wildemann in alten Zeiten: „An Weihnachten ist alles wieder da“, erzählt Yasmin Mai-Schoger. Fotos: Privat
„Mein schönstes Weihnachtsfest“ heißt unsere GZ-Adventsserie. Leserinnen und Leser schreiben Geschichten, die ermuntern, besinnlich sind, Hoffnung geben – gerade auch im zweiten Corona-Jahr. Die Buchautorin Yasmin Mai-Schoger, in Wildemann geboren, erzählt uns über die emotionalen Zutaten für ihr schönstes Weihnachtsfest.
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Wildemann. Kennen Sie dieses Gefühl? Dieses Gefühl, das sich irgendwie nur zu Weihnachten einschleicht? Diese Mischung aus wundervollen Kindheitserinnerungen, Sehnsucht nach dem Vergangenen, das Bedürfnis nach alten Geschichten, gepaart mit dem Wunsch nach Frieden, nach Harmonie und nach Stille? Dieses Gefühl kommt mit dem ersten Geruch nach Zimt, dem zweiten Bissen Weihnachtsstollen oder Lebkuchen oder auch mit dem flackernden und tanzenden Lichterschein auf dem wohlriechenden Adventskranz.
So geht es mir von Jahr zu Jahr aufs Neue: Da ist diese typische, schon tausendmal gehörte (oder gesungene) Weihnachtsmelodie, eine winzig kleine Filmsequenz von „Aschenbrödel“, „Der kleine Lord“ oder „Sissi“ – und schon ist es passiert. Ich sitze vor dem Fernseher in meinem kuscheligen Schlafanzug und schaue ganz gemütlich einen Film nach dem anderen, esse mit Nougat gefüllte, sternförmige Kekse – gleich nach denen mit Marmelade gefüllten, rundlichen Keksen und den in Puderzucker gewälzten. Und obwohl ich alle Szenen quasi schon mit der Muttermilch aufgesogen habe, verfalle ich von Jahr zu Jahr erneut in dieses ganz besondere Weihnachtsfeeling, erinnere mich an meine Kindheit und bin gedanklich in Goslar, Lautenthal oder in Wildemann. Ich sehe die imposante Maria-Magdalenen-Kirche von dem kleinen Örtchen genau vor mir – erst von außen, dann von innen. Ich meine sogar die Glocken des Kirchturmes zu hören – für mich einzigartig und unverkennbar.
Unter Tausenden würde ich sie erkennen, so oft habe ich sie schlagen hören. Jedes einzelne Detail ist mir in Erinnerung geblieben. Obwohl ich doch sonst so vergesslich bin – an Weihnachten ist alles wieder da! Die schweren, einladenden Eingangstüren, die riesengroßen, bunt bebilderten Fenster, die abgesessenen Kirchbänke, die hölzerne Treppe, die so lustig knarrt und ächzt. Zu Weihnachten war das halbe Städtchen in der Kirche, vielleicht auch das ganze. Oftmals saß man am gleichen Platz. Kleine Erinnerungsfetzen erscheinen blitzartig vor meinem inneren Auge.
Ich wandere durch meine persönliche Weihnachtsgeschichte. Plötzlich thront mein Großvater in seinem gemütlichen Ohrensessel und schaut zum hunderttausendsten Mal „Es war einmal in Amerika“. Meine Mutter sitzt in dem Sessel gegenüber und lächelt zufrieden.

Yasmin Mai-Schoger
Ein paar Weihnachtslieder. Dann wird es still. Mein Herz wird schwer – ein Sehnen wächst in mir. Mir fällt ein, dass meine Mutter jetzt wahrscheinlich gerade in ihrem Wohnzimmer sitzt, vielleicht genau auf diesem Sessel aus meinen Erinnerungen, und ihr kleines weit gereistes Weihnachtspaket auspackt. Mein Weihnachtspaket. Nur ein paar Kleinigkeiten. Aber doch liebevoll ausgesucht und ein Versuch, ein kleines bisschen „Ich-denk-an-Dich“ zu vermitteln.
Seit gefühlten 30 Jahren bin ich schon nicht mehr zu Hause – und doch, an Weihnachten bin ich es. Wenigstens für einen Moment. Und wenn dann an Heiligabend am Ende des Weihnachtsgottesdienstes das Licht ausgeht, die Orgel voller Inbrunst das Lied „O du fröhliche“ spielt, spätestens dann rinnt eine kleine einsame Träne meine Wange hinunter. Ganz still und heimlich! Gefüllt mit meinen Erinnerungen.
Dann ist die stille Stille Nacht wieder einmal viel stiller als gedacht. Und ich bin abermals in meinem kleinen Heimatdorf Wildemann. Stehe oben auf der Empore, schaue auf den riesigen weißen Weihnachtsstern und höre „meine Kirchenglocken“. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, und für eine Sekunde bin ich der glücklichste und traurigste Mensch zugleich. Ich könnte die ganze Welt umarmen.
„Weihnachtsträume in Kriegszeiten – eine Adventsgeschichte aus Bad Harzburg