Anne Spiegel feiert politisches Comeback trotz Protesten
Spiegel holte in der Regionsversammlung in geheimer Abstimmung mit 49 von 77 abgegebenen Stimmen die nötige Mehrheit. Foto: Shireen Broszies/dpa
Anne Spiegel ist zurück in der Politik. Trotz Kritik an ihrer Rolle bei der Flutkatastrophe im Ahrtal wurde sie in Hannover mit Mehrheit gewählt. Ihr Neustart wurde von Protesten begleitet.
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Hannover/Mainz. Stattliche 52 Punkte umfasste die Tagesordnung für die Sitzung der Regionsversammlung Hannover. Doch die Fragen der Bürgerinnen und Bürger drehten sich in der offenen Fragestunde ausschließlich um Punkt sechs: die Besetzung der Stelle einer Wahlbeamtin für das Dezernat II für Soziales, Teilhabe, Familie und Jugend. Die dafür von Regionspräsident Steffen Krach (SPD) vorgeschlagene Bewerberin: Anne Spiegel (Grüne).
Spiegel feiert damit ein politisches Comeback
Die wegen ihrer Rolle bei der Flutkatastrophe im Ahrtal umstrittene frühere Bundesfamilienministerin wurde am frühen Abend zur neuen Sozialdezernentin der Region Hannover gewählt. Spiegel holte in der Regionsversammlung in geheimer Abstimmung mit 49 von 77 abgegebenen Stimmen die nötige Mehrheit.
23 Abgeordnete stimmten gegen die Politikerin, fünf enthielten sich. Spiegel kündigte an, für ihr neues Amt in die Region Hannover zu ziehen. Die Amtszeit beträgt acht Jahre. Spiegel tritt damit in ein Beamtenverhältnis auf Zeit ein.
Nach nur vier Monaten als Bundesfamilienministerin zurückgetreten
Spiegel feiert damit ein politisches Comeback. Die 44-Jährige steht seit ihrer Rolle bei der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 in der Kritik, als sie Umweltministerin in Rheinland-Pfalz war. Im Zusammenhang damit war sie im April 2022 nach nur vier Monaten als Bundesfamilienministerin zurückgetreten.
Spiegel war zehn Tage nach der Flutkatastrophe zu einem Familienurlaub nach Frankreich aufgebrochen ‒ worüber sie später letztlich stolperte. Damals wurde ihr unter anderem vorgeworfen, trotz der schweren Lage in ihrem Bundesland nicht vor Ort gewesen zu sein. Später bezeichnete sie ihr Verhalten als Fehler und räumte persönliche Überlastung ein.
Regionspräsident Krach: Spiegel hat Expertise
Ein Bürger richtete sich in der offenen Fragestunde ans Plenum: „Wie wollen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern erklären, dass sie eine grüne Politikerin aus Rheinland-Pfalz wählen, die schon in ihrer Amtszeit dort lieber in den Urlaub gefahren ist, statt sich in der größten Katastrophe, die es je in Deutschland gegeben hat, um die Betroffenen zu kümmern?“
Regionspräsident Krach verteidigte Spiegel: Es habe ein „objektives, transparentes Auswahlverfahren“ gegeben. Spiegel habe sich als Landesministerin über viele Jahre Expertise angeeignet und in der Koalition „eine gewisse Anerkennung“ genossen.
Die Nominierung Spiegels war von Protesten begleitet worden. Erst am Wochenende demonstrierten in Hannover rund 50 Menschen gegen ihre mögliche Wahl. Die Organisatoren legten 135 Kreuze und Grablichter auf den Opernplatz mitten in der niedersächsischen Landeshauptstadt ‒ symbolisch für die Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021. Auch am Wahltag fanden sich vor dem Haus der Region Hannover einige Demonstrierende ein.
Bürger in Fragestunde: „Warum? Warum Anne Spiegel?“
Ein weiterer Bürger erinnerte an die vielen Toten der Flutkatastrophe und richtete sich vorwurfsvoll an die grüne Fraktionsvorsitzende Sinja Münzberg: „Warum? Warum Anne Spiegel?“
Spiegel ging in ihrer Vorstellungsrede auf die Kritik an ihrer Person ein. Sie nehme die Vorbehalte wahr und ernst. „Ich wische sie nicht einfach weg, sondern ich nehme sie als Anlass und Ansporn zu zeigen, dass ich eine inhaltliche Expertise mitbringe, die für die Menschen in der Region einen Mehrwert darstellt.“
Aus dem Regionsverband der Grünen hieß es nach der Wahl: „Wir unterstützen Anne Spiegel nicht trotz ihrer Vergangenheit, sondern aufgrund der Konsequenzen, die sie daraus gezogen hat.“ Sie stehe für eine Haltung, die politische Arbeit nicht als Perfektion verstehe, sondern als Prozess, in dem Verantwortungsbewusstsein und Lernbereitschaft wichtig sei.
Spiegel: Sozialpolitik „kein Sprint, sondern ein Staffellauf“
Sozialpolitik sei „kein Sprint, sondern ein Staffellauf“, sagte die 44-Jährige, die derzeit noch als Leiterin des operativen Geschäfts beim gemeinnützigen Berliner Hilfsangebot „Krisenchat“ arbeitet ‒ ein professionelles Chat-Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in schwierigen Situationen.
Sozialpolitik ist laut Spiegel auch kein theoretisches Konzept: „Es ist das, was passiert, wenn eine alleinerziehende Mutter endlich einen Kitaplatz bekommt, wenn ein obdachloser Jugendlicher eine warme Mahlzeit und ein Gespräch findet, wenn eine Seniorin nicht mehr zwischen Pflegeheim und Einsamkeit wählen muss.“
Bei der Ahrtalflut starben 135 Menschen
Spiegel soll im Mai 2026 die Nachfolge von Andrea Hanke antreten, die in den Ruhestand geht. In der Regionsversammlung wurden insgesamt drei neue Regionsräte für acht Jahre gewählt. Neben Spiegel waren das Torben Klant und Isabella Gifhorn.
Spiegel war von 2016 bis 2021 rheinland-pfälzische Familien- und Integrationsministerin, 2021 übernahm sie zudem das Umweltministerium - in diese Funktion war sie auch für den Hochwasserschutz zuständig.

Spiegel ging in ihrer Vorstellungsrede auf die Kritik an ihrer Person ein. Foto: Shireen Broszies/dpa

Aus dem Regionsverband der Grünen hieß es nach der Wahl: „Wir unterstützen Anne Spiegel nicht trotz ihrer Vergangenheit, sondern aufgrund der Konsequenzen, die sie daraus gezogen hat.“ Foto: Shireen Broszies/dpa