Eine Zeitreise – Weihnachten im Jahre 2124

In der GZ-Adventsserie erzählen Leserinnen und Leser von Weihnachtsbäumen, die ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind. Foto: Bahlo/dpa
„Mein schönster Weihnachtsbaum“ heißt in diesem Jahr der Titel unserer GZ-Adventsserie. Heinz-Dieter Brandt aus Liebenburg wagt mit seiner fiktiven Adventsgeschichte einen Blick in die Zukunft auf Weihnachten in 100 Jahren:
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Liebenburg/Goslar. „Noch sieben Minuten“, verkündete Eve erwartungsvoll und blickte auf das kleine Implantat an ihrem Handgelenk, „dann sind wir in Goslar.“ Steve, der auf der Fahrt durch die Vororte Liebenburg und Dörnten nicht minder neugierig das immer größer werdende Lichtermeer betrachtete und in der Ferne schon die Silhouette der Kaiserpfalz sich am Himmel spiegeln sah, schaute Eve verliebt an. Sie hatten sich vor einem halben Jahr unter widrigen Umständen kennengelernt.
Ein Chip hinterm Ohr
Bei einem Besuch in Goslar war er mit seinem Hoverboard in eine Touristengruppe gerast, hatte noch versucht auszuweichen, aber das auf Luftkissen schwebende Board erforderte einiges an Übung, und so hatte er Eve buchstäblich umgehauen. Ein halbes Jahr, einen saftigen Strafzettel, diverse Blumengrüße und einige Krankenhausbesuche später traf er sich immer noch mit Eve. Es hatte sich eine intensive Zuneigung entwickelt, die Schmetterlinge in ihren Bäuchen flattern ließ. Zu Weihnachten wollten sie in die Stadt ihrer ersten Begegnung zurückkehren. Längst hatte er den Telechip hinter seinem Ohr auf ihren Namen programmiert, und kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus tat sie es ihm gleich. Eine ideale Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren, und wenn die Urgroßeltern von „Handys“ sprachen, lachten sie sich immer halb tot.
Schule? Die gibt es nur noch am Monitor
Beide waren noch Schüler, ein altmodischer Begriff, der nur bedeutete, dass sie einige Stunden in der Woche mit ihrem Lehrer am Bildschirm arbeiten mussten. Der saß irgendwo am Controller und hatte die Aufgabe, seine fast 120 angeschlossenen „Objekte“ zu überprüfen und mit neuen Links zu versorgen. Schule im herkömmlichen Sinne gab es schon lange nicht mehr. Materialkosten und Gebäudeunterhalt waren explodiert, und Lehrer wollte niemand mehr werden, seit KI-gesteuerte Unterrichtseinheiten umfangreich und didaktisch wie methodisch so gut personalisiert waren, dass sie auf alle speziellen Bedürfnisse der Jugendlichen eingingen. Da Kritiker aber immer wieder auf den Mangel an sozialer Kultur hinwiesen, wurden in jeder Stadt bis in die kleinsten Gemeinden Kommunikationsevents angeboten, an denen die Jugendlichen verpflichtend teilnehmen mussten. Zu den beliebtesten gehörten Märkte, insbesondere Weihnachtsmärkte.
Weihnachtsmarkt als Hologramm
Dieses Jahr hatten sich Eve und Steve für den Weihnachtsmarkt entschieden. Sie hätten ihn auch als 3-D-Hologramm inklusive Weihnachtsduft ins Zimmer holen können, aber in einem Hologramm herumzulaufen war ihnen zu künstlich. Sie wollten durch Goslar schlendern, die Dekorationen bewundern und mit Menschen plaudern, um ihr Kommunikationstestat zu erhalten.
Es war ein lauer Abend und man hörte Vögel, die seit Jahren nicht mehr in den Süden zogen. Der Mond näherte sich seiner Vollmondphase und beleuchtete das Fachwerkstädtchen, das seit Jahrhunderten nichts von seinem Charme verloren hatte.
Die Weihnachtsstadt Goslar
War der Weihnachtsmarkt vor vielen Jahrzehnten noch auf den Marktplatz beschränkt, so hatte der Rat der Stadt inzwischen ganz Goslar zur Weihnachtsstadt erklärt, um dem gesellschaftlichen Eventcharakter und dem wachsenden Touristenstrom Rechnung zu tragen, der bereits Ende Oktober einsetzte, in der alljährlichen Aufführung der Weihnachtsgeschichte vor der Kaiserpfalz mit großem technischen und holografischen Aufwand gipfelte und weit über den Jahreswechsel hinaus andauerte.
GZ-Adventsserie
Dieses Jahr kaufen wir den Weihnachtsbaum aber früher
Kaum war der auf Magnetschienen lautlos einfahrende Zug zum Stehen gekommen, und die Türen hatten sich geöffnet, schwebte eine weibliche, weihnachtlich gekleidete Robota heran. „Kann ich Ihnen helfen?“, säuselte sie mit engelsgleicher Stimme und forderte beide auf, ihre Netzhaut registrieren zu lassen, um zu überprüfen, dass sie humanoid waren. Zu viele KI-Typen tummelten sich bereits unter den Besuchern. Während Steve sich über die wohlgeformte Roboterfigur amüsierte, stupste Eve ihn an: „Schau mal, wir werden begrüßt“, und sein Blick folgte ihrer Hand, die auf eine große Leinwand im ehemaligen Niedersachsenhof zeigte, auf der aus Sicherheitsgründen alle Neuankömmlinge namentlich erfasst wurden, die nun von Kameras mit Gesichtserkennung durch die Stadt begleitet wurden.
Die Robota ließ nicht locker und bot erneut an, die beiden durch Goslar zu begleiten. Doch die beiden lehnten dankend ab. Sie wollten sich allein umsehen, erkundigten sich nur noch nach den digitalen Meldestellen für ihre Testate, deponierten ihre schnellen Gleitschuhe und waren schon auf dem Weg zum Bahnhofsausgang.
Eine Fahrt im Robo-Taxi
Dort wurden sie umgehend von einigen selbstfahrenden Tischen mit kleinen Köstlichkeiten umringt. Nicht alle hatten etwas Weihnachtliches im Angebot, präsentierten eher Kostproben besonderer Produkte aus der Region. Die beiden naschten ein wenig, bevor sie in ein autonomes Zweiertaxi stiegen. Der in ihrem Handimplantat gespeicherte Stadtplan lenkte das Taxi bequem durch die mittelalterlichen Gassen der Vorstadt und wies auf die zahlreichen „Points of Interest“ hin, bevor er sie in Richtung Innenstadt führte.
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Ein zweites Leben für das Bäumchen
Beim „Dicken Ehepaar“, einem seit Jahrhunderten beliebten Treffpunkt, das sich launig über die Bedeutung von Weihnachten unterhielt, stiegen sie aus und hatten ihr erstes „Gänsehaut-Erlebnis“: Durch einen langen, dezent beleuchteten Tunnel blickten sie auf den Jacobikirchhof. Dieser „Frozenchannel“ war eine Neuheit in Goslar. In Weiß und Blau gehalten und mit Tausenden von Flocken bestückt, erinnerte er an den Schnee, der früher oft zu Weihnachten fiel und vermittelte gleichzeitig das Gefühl von Kälte.
Prachtstraßen, Kunst und Klangbänke
Temperaturen um den Gefrierpunkt und darunter war niemand mehr gewohnt, kannte auch kaum noch jemand. Fröstelnd durchschritten sie den Tunnel, der sich über die gesamte Rosentorstraße erstreckte, und setzten sich an dessen Ausgang, nun wieder von lauer Luft umgeben, auf eine der vielen Klangbänke, die beim Näherkommen Weihnachtslieder erklingen ließen. Hier konnte man verweilen, zuhören und über Spracheingabe seine Lieblingslieder auswählen.

Weihnachten im Schnee? Im Jahre 2124 ist das auch im Harz kaum vorstellbar, sagt Heinz-Dieter Brandt in seiner Adventsgeschichte voraus: ein fiktiver Blick auf Weihnachten in 100 Jahren. Unser Foto dazu ist mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz entstanden. Foto: Pixabay
Vorbei an der Wohldenbergstraße, die als Straße längst nicht mehr existierte, sondern mit dem angrenzenden ehemaligen Kaufhausgebäude zu einem avantgardistischen Zentrum für internationale Kunstobjekte verschmolzen war, bogen sie in die Fischemäkerstraße ein, neben der Hokenstraße eine der unzähligen Prachtstraßen Goslars. Hier boten die unterschiedlichsten weihnachtlichen Figuren und Tiere als Hologramme ein buntes, glitzerndes Lichtspektakel, sprachen manche Besucher an, wünschten frohe Festtage und warben je nach Standort dezent für das eine oder andere Highlight im angrenzenden Geschäft. Kleine Roboter wuselten zwischen den Besuchern, verschenkten Gebäck und Getränke, und besonders eilige Besucher bahnten sich mit ihren schnellen Gleitschuhen recht abenteuerlich ihren Weg durch die Menge. Alle Straßen waren boulevardartig ausgebaut und für Gleitschuhe und kleine Scooter zugelassen, auf die man weit vor der Stadt umsteigen musste.
Engel schweben über den Straßen
Über den Straßen schwebten Scharen von bunten Engeln, die glitzernde Lichtfunken auf die Besucher herabrieseln ließen, so dass Eve und Steve das Gefühl hatten, direkt durch eine weihnachtliche Milchstraße zu schlendern. Aus Sicherheitsgründen waren alle Straßen mit Glasdächern überdacht, um die Besucher vor den kleinen Flugtaxis zu schützen, die über den Dächern der Stadt schwebten und aus denen jubelnde Kinder goldene Sterne rieseln ließen.
Am Ende der Fischemäkerstraße liehen sich Eve und Steve an einem Stand eine spezielle 3-D-Brille aus, mit der sie ein Orchester mit den besten Musikern aus aller Welt bewundern konnten, das geschickt in den Markt zwischen den weihnachtlichen Ständen integriert war.
Echte Weihnachtsbäume sind verboten
Bevor sie sich auf den Weg zum Marktplatz machten, um von dort mit der autonomen Eisenbahn über die Breite Straße zum Osterfeld zu fahren, wo sie ein Lufttaxi mieten wollten, bogen sie in den Schuhhof ein. Vor gut hundert Jahren wurden hier alljährlich unzählige Tannen aus dem Harz zu einem Weihnachtswald aufgestellt, unter dem die Besucher in weihnachtlicher Atmosphäre Glühwein trinken konnten. Mit ihren Netzhautscans konnten sie das Treiben von damals noch einmal hautnah miterleben. Heute erstrahlten stattdessen Hologramme als Tannenbäume in verschiedenen Größen und Farben. Das Aufstellen echter Tannen war seit Jahrzehnten verboten, da sich der Harzwald nach der Zerstörung durch invasive Arten nur mühsam wieder erholte.
Eisbombe statt Glühwein
Nur die Weihnachtsbuden hatten noch etwas Nostalgisches, auch wenn der Glühwein witterungsbedingt durch eine kräftige Eisbombe, auch mit Lebkuchengeschmack, ersetzt worden war und gesundheitsbewusst kein Alkohol ausgeschenkt wurde.
Vor der Fahrt durch die Breite Straße warfen sie noch einen Blick durch die weit geöffneten Flügeltüren der Marktkirche. In der fast dunklen Kirche blieben ihre Blicke an dem Altar mit der Strohkrippe hängen, auf dem eine einzige Kerze brannte und kein Ton zu hören war, so sehr sie ihre Kommunikationsgeräte bemühten. Absolute Stille.
Eve kuschelte sich an ihren Freund, und plötzlich spürten beide das Geheimnis von Weihnachten, von dem ihre Urgroßeltern immer geschwärmt hatten. Diese eine, einsame Kerze strahlte mehr Festlichkeit aus als alle blinkenden Lichter der Stadt.
Die nächste Folge:
„Das unbeschwerte Glück der Kindheit“, eine Weihnachtsgeschichte aus Goslar
GZ-Adventsserie
Ein großes Wunder für fünf Mark
