Gedenken und Mahnung: Wie ein Verein Goslars Geschichte lebendig macht

Genau hingeschaut und hingehört: Wenn Oilver Turk mitten im Gewühl erklärt, sind alle ganz Ohr – ob nun am Güldensternhaus oder vor der früheren Bauernhochschule. Foto: Heine
Am 8. Mai 1945 endete offiziell der Zweite Weltkrieg. An diesem symbolträchtigen Tag führte Oliver Turk, Vorsitzender des Vereins Spurensuche Harzregion mehr als 60 Menschen in Goslars Vergangenheit.
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Der 8. Mai ist ein Datum mit Symbolkraft. 1945 endet an diesem Tag offiziell der Zweite Weltkrieg. Vier Jahre später beschließt der Parlamentarische Rat an diesem Tag das Grundgesetz, das am 23. Mai verkündet wird und am 24. Mai in Kraft tritt. Seit 75 Jahren besteht die Bundesrepublik Deutschland und feiert ein nicht selbstverständliches Jubiläum.
Denn wie nicht nur Oliver Turk weiß: Der Weimarer Republik, dem ersten Demokratie-Versuch auf deutschem Boden, war nur die bescheidene Dauer von 1918 bis 1933 vergönnt. Zwischen Kaiser Wilhelm II. und Nazi-Führer Adolf Hitler lagen nur wenige stabile Jahre. Wie lässt sich dem entgegenwirken, dass Demokratie an Wertschätzung und Unterstützung verliert? Der Verein Spurensuche Harzregion, deren Vorsitzender Turk ist, versucht es mit Führungen, die die Goslarer Vergangenheit erkunden. Etwa dessen Zeit als Reichsbauernstadt, um zu mahnen, was schieflaufen kann, wenn niemand die Zeichen der Zeit erkennt. Wenn sich Menschen der Demokratie (zu) sicher wähnen und glauben, sie sei selbstverständlich und ohne Einsatz zu haben.

Erinnern mit Stelen: Die heutige Rosentorstraße heißt unter den Nazis Adolf-Hitler-Straße und ist ab 1933 ein wichtiger Verbindungs- und Aufmarschweg vom Bahnhof zum Marktplatz. Foto: Heine
Turk ist nicht dieser Meinung. Am 8. Mai – mithin einen Monat vor der Europawahl am 9. Juni – führt er eine Stunde lang mehr als 60 Menschen durch Goslar – im Namen seines Vereins und des Bündnisses gegen Rechtsextremismus. Von der Klubgartenstraße, wo früher die Bauernhochschule die Blut-und-Boden-Ideologie in die Köpfe junger Menschen vom Lande trichterte, bis hin zur Bäckerstraße 22, wo der frühere Reichsbauernführer und Goslarer Ex-Ehrenbürger Richard Walther Darré im eigenen Verlag Werke wie „Zucht als Gebot“ drucken ließ und keinesfalls nur Tiere meinte.
„MenschlicheSchicksale“
Viele bekannte Gesichter sind darunter. Zwei Ratsherren, eine Kreistagsabgeordnete, eine Grundschulrektorin, ein früherer Hotel-Direktor, zwei Goslarer Geschichtspreisträger, der Ex-Propst und noch viele mehr. Aber darum geht es nicht. Es geht Turk darum, dass es ohne den 8. Mai 1945 „weder Demokratie noch Grundrechte noch einen Sozialstaat“ auf deutschem Boden gäbe; dass er zwar „nicht den Zeigefinger erhebt“, aber doch gerade in Zeiten, „in denen manche das Grundgesetz mit Füßen treten, man für die Demokratie kämpfen muss“; und es geht ihm nicht „um Zahlen in Geschichtsbüchern, sondern um menschliche Schicksale“. Und deshalb seien die Täter auch beim Namen zu nennen. Wie Darré in der großen Nazi-Politik. Aber auch wie Kurt Holler und Richard Eichenauer, die in Goslars Bauernhochschule die Regie führten und sich später in der Entnazifizierung gegenseitig Persilscheine ausstellten.
Kommt einem irgendwie bekannt vor. Hatte nicht auch Goslars früherer Oberstadtdirektor Helmut Schneider nach seiner IG-Farben-Karriere in Auschwitz als ausgewiesener Franzosen-Freund späte Gnade gefunden? Das Lager war weit weg, gute Freunde für einen reinen Leumund so nah. Drei Wochen zuvor durfte der Geschichtsverein staunen, was nach dem Krieg möglich war. Wer weiß heute noch, dass der „Achtermann“-Direktor Heinrich Pieper keine Juden unter seinen Gästen haben wollte? Schon 1920 verkündete er dies in Inseraten. Zeit seines Lebens, erzählt Turk, habe eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge in seinem Hotel hängen müssen. Heute ist eine Straße nach dem antisemitischen Kaisertreuen benannt. Sie führt die Goslarer Polizei und das Jugendzentrum B6 als Anwohner.

Die frühere Bauernhochschule. Foto: Heine
Was Opfer erleiden
Turk spricht an diesem Tag aber auch viel und einfühlsam von den Opfern. Von der Jüdin Helene Lebach, die einst im Güldensternhaus lebte. Oder von den beiden Kommunisten Hermann Wenskowski und Hugo Rübesamen, die sofort nach Machtübernahme durch die Goslarer Nazis in Lagern verschwinden. Schicksale von Goslarer Menschen, die bewegen. Die zum Nachdenken animieren. Es gibt in Goslar diverse Führungen mit ähnlichen Themen wie jene vom 8. Mai. Teils sind sogar Audioguides im Einsatz, für die Schüler der Okeraner Adolf-Grimme-Gesamtschule die Grundlage geschaffen haben. Dort unterrichtet Turks Partnerin Sabine Rehse mit viel Einsatz, der sich auf vielen Ebenen auswirkt. Es lohnt sich allemal für Goslarer und Gäste, an solchen Touren teilzunehmen.
Der nächste Rundgang ist bereits für heute um 16 Uhr angesetzt und führt über den Friedhof an der Hildesheimer Straße. Dort liegt unter anderem Darré begraben. Turk informiert gemeinsam mit Erika Hauff-Cramer über Struktur und Geschichte des Friedhofs und einzelner Grabstätten. Treffpunkt ist am Haupteingang an der Von-Garßen-Straße. Die Teilnahme ist kostenfrei eine Anmeldung unter Ruf (05321) 7381832 erwünscht.