Eine musikalische Zeitreise in Frack und Latexkleid

Bad Harzburg. Was fasziniert die Menschen an vergangenen Zeiten? Die waren ja auch nicht immer so doll, um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber da standen natürlich noch Männer im Frack auf der Bühne und machten Musik auf Instrumenten, deren Namen manche Leute heute gar nicht mehr kennen. Da ließen sich große Diven feiern und huldigten mit noch größeren Gesten der Kultur. So wie am Samstagabend Tim Fischer, der erneut Gast des Kulturklubs im Bündheimer Schloss war. Er und seine Band gaben alles und boten viel: Musiker im Frack, einen Sänger mit geligem Haar, eine schillernde Diva – ein Abend wie eine Zeitreise, mit Liedern, die zeitlos sind: Fischer sang Chansons von Georg Kreisel und nach fast drei Stunden bejubelten ihn 250 Besucher mit stehenden Ovationen.

Das Gefühl der 1920er

Es war ein Abend mit einem 20er-Jahre-Gefühl. 1920er, wohlgemerkt. Zunächst einmal standen da natürlich drei Musiker mit Stil und Können auf der Bühne: Sebastian Weiß (Flügel), der musikalische Leiter Oliver Potratz (Bass) und Hauke Renken am Schlagwerk, speziell am Vibrafon, eben jenem Instrument, das heute kaum mehr einer kennt, das aber der Musik besonderes Flair verlieh. Die drei livrierten Herren bildeten die optische, aber in erster Linie musikalische Kulisse, vor der Tim Fischer sein Können zelebrieren konnte. Zunächst klassisch-stilvoll, im schwarzen Frack, aber mit knallrot geschminkten Lippen und zentimeterlangen Fingernägeln –knallrot. Da stand eine männliche Diva auf der Bühne, wobei männlich/weiblich bei Fischer und eigentlich auch bei Georg Kreisler nicht in die gängigen Schubladen passt.

 

Fischer hat unfassbare Bühnenpräsenz, sowohl in seinen feinen Nuancen, als auch in den großen Gesten. Da sogar besonders. Und da war es: Das Gefühl, in einem Berliner Varieté der 20er-Jahre zu sein – was natürlich eigentlich mit Georg Kreisels Musik nicht geht, der Mann wäre im vergangenen Jahr „erst“ 100 geworden, weswegen Fischer ihm ja auch als Hommage einen ganzen Abend gewidmet hat. Aber Georg Kreisler ist so zeitlos, dass er in fast jede Vergangenheit passt, genauso, wie in die Gegenwart. In die Zukunft wahrscheinlich auch, aber das sollen nachfolgende Generationen entscheiden. Kreislers Musik kann alles. Sie kann lieben, sie kann trauern, sie kann böse sein, lustig, hat schwarzen Humor, ist wortreich und bunt. Sie ist mal einfühlsam, mal mitreißend, manchmal sogar so etwas wie tanzbar. Mitunter alles zusammen. Halt besonders. Da bedarf es schon eines Ausnahme-Künstlers wie eben Tim Fischer, um aus diesem riesengroßen Werk eine Essenz herauszufiltern, die Kreisler würdig ist. Und obwohl die Lieder einzigartig sind, schaffte Fischer es, sie zu einem neuen Gesamtkunstwerk zu verschmelzen, das seine Handschrift trug.

Liebe, Lust, Leidenschaft

War der erste Programmteil vier Herren im Frack gewidmet und doch eher ruhig, mitunter gar nachdenklich, war dann im zweiten Part des Abends Glitzer und Glamour angesagt. Tim Fischer hatte sich in ein schillerndes Latexkleid gehüllt, auf dem Kopf eine rote Perücke. Nun kamen auch schon einmal die etwas frivoleren, nie aber peinlichen Kreisler-Lieder. Auch da wieder: Liebe, Lust und Leidenschaft, viel Gefühl, viel Humor. Fischer feierte mit den Besuchern im Schloss sein Tigerfest, wie der Abend tituliert war. Und das Publikum feierte mit, bejubelte die Diva und war in einer anderen Zeit angekommen. In welcher war egal, halt in einer schönen. Oder gar schöneren?