2. Dezember: Wenn das Eis verzaubernd bricht

Eiszapfen im Licht der untergehenden Sonne sind ein zauberhaftes Erlebnis. Foto: Matthias Bein
„Weihnachten mit Herz“: Leser schreiben zur GZ-Adventsserie Geschichten, die Freude machen, nachdenklich sind, Hoffnung geben oder Erinnerungen wecken. Für den 2. Dezember berichtet die Bad Harzburgerin Bärbel Starkloff aus den 1940er Jahren.
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Bad Harzburg.„Weihnachten mit Herz“ heißt in diesem Jahr der Titel unserer GZ-Adventsserie. Leserinnen und Leser schreiben Geschichten, die Freude machen, nachdenklich sind, Hoffnung geben oder Erinnerungen wecken – gerade auch in schwieriger Zeit. Bärbel Starkloff aus Bad Harzburg erzählt eine bewegende Geschichte, die sie in harten Zeiten erlebt hat – und doch ein tiefes Glück empfand:
In diesen Zeiten eine zuckersüße Weihnachtserzählung zu schreiben ist eine Herausforderung. Ein grausamer Krieg herrscht in Europa, ein Kampf der Despoten gegen freiheitliche Demokratien, unsere Mitwelt, die Natur in verheerendem Zustand, allgegenwärtige Bilder von verhungernden Kindern und verzweifelten Müttern, von Ärzten ohne Medikamente. Wir sehen überflutete Landschaften, zerberstende Gletscher, herumirrende Wildtiere, vertrocknete Felder, brennende Wälder.
Schreiende Ungerechtigkeit. Gewalt gegen Frauen, gegen Kinder und gegen unsere Mitgeschöpfe. Deshalb hier die Erinnerung an eine frühe Kindheit in den 1940er Jahren. Auch damals wütete ein mörderischer Krieg.
Wieder Wollstrümpfe
Aufatmen! Dennoch Freude, Freude auf Lichterglanz und Lametta, auf Tannenbaum und Liebesperlen, diese bunten, kleinen, süßen Leckereien, auf ein paar Plätzchen, vielleicht einen Teddy oder eine Puppe – und natürlich diese abscheulichen Wollstrümpfe. Sie mussten ertragen werden. Aber der Morgen war noch weit. Jetzt war Heiligabend. Wir, die Zwillinge Nani und Bärbel, waren selig.
Inmitten der Familie – die Väter waren im Krieg – mit Großeltern, der Tante und der Cousine, zwei Jahre älter als die Zwillinge, sangen wir sämtliche Weihnachtslieder. Ärgerlich war nur, dass die Cousine sehr laut und sehr falsch sang. Unser Anstupsen und unsere strafenden Blicke ließen sie unbeeindruckt. Das war aber auch die einzige Störung – und wir mussten nicht die garstigen Strümpfe anprobieren. Ich hatte beschlossen, sie zu ignorieren, was gar nicht so einfach war, denn der Weihnachtstisch bot einen höchst erfreulichen Anblick. Etwas Seltenes in dieser Kriegszeit.
Zum Abendbrot gab es Kartoffelsalat, Tante Lotte hatte ihn bereitet. Er war sehr lecker, und die kleinen Würstchen, die die Großeltern irgendwie besorgt hatten, ebenfalls. Dann folgte der Teil, den Schwesterchen und ich besonders liebten: Vorlesen, das konnte unsere Mama hervorragend.
Der Schutzengel
Eines meiner Lieblingsmärchen war Schneeweißchen und Rosenrot. Der verzauberte Bär war natürlich der Prinz und der Schutzengel, der die Geschwister, als sie sich im Wald verirrt hatten und darum auf dem Boden übernachten mussten, beschützt hatte. Die Mädchen waren, ohne es zu bemerken, am Rande vor einer Schlucht eingeschlafen. Der Schutzengel hatte sie behütet, was einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen hat. Noch heute hat die Vorstellung eines Schutzengels etwas Tröstliches.

Die Zwillinge Renate und Bärbel 1948 auf dem Schulweg. Foto: Starkloff
Der erste Weihnachtstag überraschte damals mit strahlender Sonne an einem frostklaren blauen Himmel. Es hatte leicht geschneit, und auf den Zweigen der Büsche lagen kleine Frostpelze. Schwesterchen und ich waren entzückt und begehrten hinaus in den Garten. Gekleidet in lange Gamaschenhosen und ein warmes, dunkelblaues Wollkleid, das mit herrlich bunten Seidenstickereien verziert war, tobten wir hinaus.
Voller Übermut hüpften wir über die Gartenwege hin zu dem ausgetretenen Hauptweg. Dort gab es Pfützen mit dünnem, milchweißem Eis und von geheimnisvoll zarten Gebilden durchzogen. Fasziniert beugte ich mich über diesen verzaubernden Anblick. Als ich mit der Spitze meines Winterstiefels behutsam das Eis berührte, zerbrach es leise klirrend.
Plötzlich steht die Zeit
Die farbigen Seidenstickereien auf meinem Kleid verschmolzen mit dem Weiß des Eises, dem Blau des Himmels und der strahlenden Sonne. Das silberhelle Klirren des zerbrechenden Eises versetzte mich augenblicklich in eine himmlische Seligkeit. Die Zeit stand für Augenblicke still. Bis heute habe ich nichts vergessen von dem Zauber, dieser schwebenden Glückseligkeit. Woher war es gekommen, dieses Füllhorn voller Glück?
Es war wohl die Summe vieler glücklich aufeinandertreffender Momente und die Fähigkeit des Kindes, diesen vollendeten Augenblick auszukosten. Nur noch zwei Male habe ich als junges Kind solche Glücksgefühle erlebt. Sie waren immer verbunden mit dem Anblick eines Naturerlebnisses. Ich erinnere mich bis heute subtil daran.
Später las ich in einem Aufsatz von Paul Tillich (1886 bis 1965), eines US-amerikanischen Theologen und Religionsphilosophen, über die Gnade. Eine Gnade, für die man nichts tun muss, nicht bitten, noch nicht einmal beten, sich einfach nur hingeben. Zurückgeblieben ist mir immer eine tiefe Freude und Dankbarkeit. Diese frühen Ereignisse sind mir eine köstliche Mitgift für mein Leben.
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