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Land in Sicht

Das ganze Dorf im Smartphone

Rapsblüte: Das Landleben ist erholsam für die Seele – und gut für die Augen. Foto: dpa/Frankenberg

Rapsblüte: Das Landleben ist erholsam für die Seele – und gut für die Augen. Foto: dpa/Frankenberg Foto: picture alliance/dpa

Das Landleben am Rande des Harzes ist erholsam, nicht nur für Großstadtneurotiker. Landleben schont die Nerven, den Geldbeutel, die Seele – und selbst Ebay & Co. sind völlig überflüssig, wie uns Florentine in ihrer Kolumne verrät.

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Von Florentine
Montag, 17.06.2024, 18:01 Uhr

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Nein. Wir vermissen als zugezogene Neu-Niedersachsen das Leben in südlicheren Metropolen immer noch nicht. Für unsere Finanzen, Nerven und Gesundheit war der Umzug in ein altes Haus inmitten der Rübenfelder der Jackpot. Denn für unsere winzige Pariser Mietwohnung mit Sitzbadewanne und zwei Kochplatten – dafür ohne Platz für Herd oder Waschmaschine! – zahlten wir eine Summe, deren Zahl uns beim Checken der Überweisung immer wieder erbleichen ließ.

München, Toulouse, Harz

In München brachte das Rumpeln der Straßenbahn unser Bett zum Erzittern, und die Kinder des Hauses spielten am nahen Friedhof, denn es gab sonst kein Grün. Die Toulouser Stadtwohnung wiederum war so heiß, dass wir uns im Hochsommer vor das Joghurtregal im Supermarkt flüchteten, um einen Hitzeschlag zu vermeiden. Über Wochen blieben wir dort täglich so lange stehen, dass uns die Verkäuferinnen für Joghurt-Stalker oder Schlimmeres hielten. Zudem wurden unsere Fahrräder aus dem Treppenhaus des Hauses geklaut – und dazu mein Schmuck aus der Wohnung. Spätestens dann hatten wir genug von der Stadt.

Das Landleben hier ist familiär. Therapeutisch. Lustig. Vor allem, seitdem ich in den Dorfchat bei WhatsApp aufgenommen wurde. Der Kanal unseres Ortes hat rund 100 Mitglieder – die Hälfte der Dorfbewohner. Jede Woche ploppen dort Einladungen über das Smartphone auf: zu einem Gartenflohmarkt, einer Wanderung, einem Bürgerfrühstück, einem großen Feuer.

Die ganze Welt im Dorf-Chat

Es wird zum Einfahren von Strauchgut an Ostern geworben oder beim Schlachtefest der Feuerwehr Wurst angeboten, die so mega-regional ist, dass es kracht, und die ich auch als Vegetarierin probiere: Mettwurst im Ring, Rotwurst und Schwärchenwurst – die 100 Gramm zu 1,40 Euro. „Die frischen Würste noch einen Tag hängen lassen“, mahnen die Wurstemacher im Handy. Wusste ich noch nicht.

Der Dorfchat ersetzt zudem das Surfen auf Ebay-Kleinanzeigen. Unsere Nachbarn verschenken Waschmaschinen und Zirkuskarten, Bürosessel und Esstische, Fußbälle und kleine Garagen. Fitnessgeräte werden für einen symbolischen Euro verkauft, Pflastersteine, Dachziegel, Mutterboden oder Erdaushub angeboten. Wenn Haustiere ein liebevolles neues Heim suchen, posten die Besitzer ihre Schützlinge mit ausführlichen Familiengeschichten und Psychogrammen: Manche Katzen sind mit ihren Geschwistern vom Heuboden gefallen, die Mutter wurde überfahren, die Vierbeiner bringen Toiletten, Futterautomaten und Kratzbäume mit.

Der Dorfchat ersetzt auch Reality-Shows, Krimis, Personal Trainer und die Taxizentrale. Unter der Rubrik „Lost & Found“ erscheinen Fotos von Asthmasprays, Zwerghasen, Kettensägenschutz-Teilen, Schmusetieren, verschwundenen Grabblumen und weggeflogenen Zelten.

Landleben – oder die Suche nach dem Glück

Am häufigsten werden Bilder von abgehauenen Hasen, Katzen oder Hunden gepostet – und man atmet als Chatmitglied richtig auf, wenn Waldi, Wuffi oder Mila wiedergefunden wurden und auf dem Schoß der Frauchen in die Kamera schauen. Big News sind Nachrichten wie die Gründung einer Pilates-Gruppe im Dorfgemeinschaftshaus – für das auch der freiwillige Putztag über den Chat organisiert wird. Bei Abwesenheit von erreichbaren Bussen und der realen Unmöglichkeit, ein Taxi zu bekommen, ist es ein Segen, dass im Dorfchat kranke Bewohner schnell Nachbarn finden, die sie zum Arzt zu fahren.

Bei der nie endenden, manchmal verzweifelten Suche nach dem Lebensglück, die so viele Menschen zu Coaches und Psychologen – manchmal auch zu Drogen treibt – ist der Schlüssel zur Zufriedenheit vielleicht ganz einfach: menschliche Nähe. Geteilte Geschichten. Bei uns fehlt nur noch ein Dorf-Parship im Chat.

Eure Florentine

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