Poetry-Slam am Rammelsberg: Texte über Bergbau und Grubenleben

Das Publikum zeigte sich begeistert von den Darbietungen und vergab gute Noten. Foto: Hartmann
Der Goslarer Rammelsberg lud zum 4. Poetry-Slam ein: Fünf Poeten erzählten vom Leben unter Tage, zählten Zigaretten und Helme, schrieben über Weihnachts-Traumata, Kinderbuch-Klassiker, Frauenrechte, Arbeitsplätze, Grönemeyer und Erfolgscoaches.
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Goslar. Fünf Autoren, zwölf Auftritte, 69 Ausstellungsbilder und 125 Zuschauer: Das alles ergab am Freitagabend ein Feuerwerk der Poesie am Rammelsberg, donnernden Applaus, ein Herzschlag-Finale und zuletzt die Kür einer verdienten Meisterin.
Zum Poetry-Slam hatte das Bergwerk zum bereits vierten Mal sein Werkstor geöffnet, und fünf junge Wortkünstler lieferten sich in der alten Schlosserei ein Sprachgefecht, dass den Gästen beinahe Hören und Sehen verging. Witzige und ernste Texte waren darunter, politisch, poetisch, manchmal auch völlig abgedreht, oft mit hohem Tempo hervorgeschleudert, manchmal gereimt, einmal sogar gesungen. Aber der Spaß an der Poesie sollte im Vordergrund stehen, wie die Moderatoren Henning Chadde und Jan Sedelies von Anfang an klarmachten. Und der Funke sprang schnell über, die Freude an der Dichtkunst kam beim Publikum gut an.
Beim Wettstreit war die erste Runde dem Bergbau und der aktuellen Foto-Ausstellung gewidmet: Die Poeten hatten im Vorfeld Scans der 69 Bilder aus der Sammlung „Grubenleben“ bekommen – mit der Auflage, darüber einen Text zu verfassen. Die Beiträge, über die eine aus dem Publikum spontan gewählte Jury abstimmen durfte, erwiesen sich als ausgesprochen individuell und sorgten für viel Gelächter und Applaus.
Das Weihnachtstrauma und der Lego-Bagger
Der Kieler Julius Keinath, der auf dem undankbaren ersten Platz startete, ließ sich von den unter Tage entstandenen Christbaumfotos zu einer Geschichte über sein Kindheitstrauma inspirieren. Wer am 25. Dezember Geburtstag hat, ist übel dran. So übel, dass die Eltern ihm den an Heiligabend geschenkten Lego-Supertrecker nach der Bescherung wieder abnahmen und ihm das Geschenk am nächsten Tag, neu verpackt, noch einmal überreichten. Traurig, und der Jury auch nur traurige 58 Punkte wert.
Kaya Finn aus Hildesheim kombinierte eine Einfahrt in den Schacht mit einer Begegnung aus „Alice im Wunderland“. Das weiße Kaninchen, die Angst vor dem Zuspätkommen, die fensterlose, lichtlose Welt, die Beklemmung und Enge der Stollen und die weisen Worte des Hopplers – das alles brachte der Poetin 64 Punkte ein.
Grönemeyer und das Steigerlied
„Grönemeyer ist schon okay“, meinte Kersten Flenter, der seinen Beitrag „Das Schweigen der Männer“ genannt hatte. Er ließ sich ein auf den intensiven Blick, mit dem neun Rammelsberger Bergleute ihn aus einem Schwarzweißfoto aus dem Jahr 1950 entgegenschauten. Was mag das bedeuten, jeden Tag zur selben Zeit zu einem Job zu erscheinen, der körperliche Anstrengung erforderte und obendrein auch noch schmutzig war ...? Und wie soll ein Vater seinem Sohn erklären, was das Leben des Großvaters ausgemacht hatte, wenn der Junge gar nicht zuhören will? Am Ende bleibt das Steigerlied in Herbert Grönemeyers Version und der Blick der neun Bergleute aus dem alten Schwarzweißfoto heraus: „In ihren müden Augen spiegeln sich Eisen und Fäustel und das ganze Gezäh.“ Ein Beitrag, der das Herz der Jury traf und eine 67-Punkte-Wertung erhielt.

Kersten Flenter ließ sich auf einen Blick in die Augen der Bergleute ein. Foto: Hartmann
Ein etwas verwischtes Foto von einer gedeckten Tafel, an der gerade jemand aufgestanden ist, war der Ausgangspunkt von Annika Blankes Geschichte. Bergmannsonkel Willi, der es immer so eilig hatte, dass er im Fotoalbum von Tante Marga eben nur unscharf dokumentiert ist. Einmal traf er einen jungen Mann, der Musik und Jura studierte. Und Willi prophezeite ihm sofort: „Mensch, Herbert, mit dem Recht wird das nichts ...“ Der Herbert hat später als Musiker Erfolg. Willi bleibt sein Fan – das geht so weit, dass er sich als Spindnummer die 4630 ergattert, die Postleitzahl von Bochum, und dass er von Currywurst schwärmt. Und auch Willi will als Liedermacher groß herauskommen. Erfolgreichster Titel: „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da.“ Damit fuhr Slammerin Annika Blanke denn auch 68 Punkte ein, das beste Ergebnis in der ersten Runde.
271 Helme auf 69 Fotos
Der Hamburger Andy Strauß war der Fünfte im Bunde: Er verblüffte seine Zuhörer durch eine statistische Auswertung der Fotografien. Dass auf 54 der 69 Bilder Helme zu sehen sind – insgesamt 271, davon 71 in Gelb, neun in Weiß und fünf in Blau, der Rest farblich nicht zu identifizieren, weil in Schwarzweiß abgelichtet – das hatte selbst das Rammelsberg-Team nicht gewusst, weswegen sich Bergwerkspressesprecher Dr. Martin Wetzel nach der Lesung flugs den Zahlenzettel sicherte. Wer die Ausstellung noch nicht gesehen hat, kann gern noch nachkontrollieren, ob dort wirklich 22 Liter Bier zu sehen sind, 31 Plastiktüten, 32 Zigaretten, vier Zigarren und sechs Pfeifen. Übrigens könne man auf einem der Fotos sogar die Geburt einer Zigarette miterleben, einer der Bergleute ist mit dem Drehen beschäftigt. Die Jury honorierte die rasant vorgetragene und herrlich absurde Statistik mit 67 Punkten.

Zahlenjongleur mit lockerem Mundwerk: Andy Strauß verblüffte durch abstruse statistische Daten zur Rammelsberger Fotoausstellung und gastronomische Deutung der Helmfarben. Sehr überzeugend auch in der Rolle eines magischen Besens. Foto: Hartmann
Erst die Pflicht, dann die Kür
Auf die Pflicht folgte die Kür, auf die Bergmannsgeschichten die freie Themenwahl. Der Fairness halber durften im zweiten Durchgang die Letzten die Ersten sein, so kam Strauß erneut auf die Bühne, allerdings hatte ihn das Bergbau-Thema nicht losgelassen: Er nahm eine Gruppe Ruhrpottler, die durch Hamburg streiften, liebevoll auf die Schippe und sang für sie schließlich einen umgetexteten Shanty: „Bergmann, lass das Träumen ...“ Wertung: 71 Punkte.
Annika Blanke präsentierte sich daraufhin als Reimkünstlerin und als Verfasserin einer ziemlich ehrlichen Kontaktanzeige. Ob die Oldenburgerin, die als ihre Lieblingsfarbe ein frivoles Mausgrau bezeichnete und sich einen textsicheren Loriot-Fan als Partner wünschte, trotz ihrer Marotte, sogar laminierte Speisekarten gelegentlich mit einem Rotstift zu korrigieren, nach dem Auftritt den Mann fürs Leben gefunden hat, ist nicht bekannt. Nur soviel: Auch sie erhielt donnernden Applaus und 71 Punkte für ihren Vortrag.

Kersten Flenter ließ sich auf einen Blick in die Augen der Bergleute ein. Foto: Hartmann
„Pimp up your Ego“
Kersten Flenter versuchte sich als gerissener Erfolgscoach, der im überteuerten Seminar „Pimp up your Ego“ seinen Teilnehmern das Geld aus der Tasche zieht. Profi-Tipp: „Wenn du es geschafft hast, eine Bildzeitung zu lesen, werde Migrationsexperte auf einem AFD-Parteitag.“ Für den Einblick in den Werkzeugkasten der Führer und Influencer gab es 64 Punkte von der Jury.
Kaya Finn räumte gnadenlos auf mit dem verantwortungslosen und egoistischen Kindheitshelden Peter Pan. Die junge Wendy wird einfach in die Rolle der Mutter gedrängt und darf in Nimmerland flicken, kochen und putzen? Wiebittewas? Warum bleibt eigentlich die „Care-Arbeit“ immer an den Frauen hängen? Und wieso bekommen Männer immer noch mehr Geld als Frauen? Aus einer Betrachtung über einen Kinderbuchklassiker wird ein flammendes Plädoyer für den Kampf um Frauenrechte. Mal sehen, ob Peter Pan nicht doch irgendwann das Selbst-Aufräumen lernt. Abgeräumt hat Finn mit ihrem kraftvollen Vortrag jedenfalls 68 Punkte.

Kaya Finn stürzte beim Abstieg in den Schacht durch ein Kaninchenloch und begegnete einem Langohr aus "Alice im Wunderland". Foto: Hartmann
Mehr Bock auf Arbeit
Julius Keinath, der in der ersten Runde hinten gelegen hatte, wurde in seinem zweiten Beitrag politisch. Er variierte ein Zitat von Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, der „längere Arbeitszeiten und mehr Lust auf Arbeit“ gefordert hatte. Aus dem geforderten „Bock auf Arbeit“ wurde dann allerdings ein „Bock auf Umverteilen von oben nach unten“, was Keinath das Spitzenergebnis von 74 Punkten einbrachte, das beste in der zweiten Runde. Fürs Finale reichte es gleichwohl nicht.
Den Kampf um den Sieg machten Andy Strauß und Annika Blanke unter sich aus. Beide hatten starke Texte für die letzte Runde aufgespart. Strauß verblüffte mit einer neuen Version von Goethes Zauberlehrling aus der Perspektive des Besens – sehr eindrucksvoll, aber chancenlos gegen Blankes betroffen machenden Bericht über den Zustand der Welt: „Da draußen ist Chaos. Es herrscht nicht. Es tobt nicht. Es ist“, stieß sie hervor. Um schließlich mit Wolfgang Borchert und Konstantin Wecker ein „Sage nein“ zu fordern: „Du, Mensch auf der Straße, wenn sie dir sagen, dass ein anderer Mensch weniger wert ist als du – sage nein!“
Der lautstarke, lang anhaltende Applaus in der alten Schlosserei war eindeutig: Blanke wurde als Siegerin gefeiert. Wobei sie in ihrem Schlusswort noch einmal betonte, worauf es bei einem Poetry-Slam ankommt: „Es geht nicht um Punkte, es geht um Poetry, es geht um die Texte!“

Julius Keinath hatte den undankbaren Startplatz Nummer eins. Aber er räumte dafür in der zweiten Runde richtig ab und erzielte die beste Einzelwertung. Foto: Hartmann

Die Siegerin des Abends: Annika Blanke überzeugte das Publikum mit eindringlichen Texten über den Bergmannsonkel Willi, Peter Pan und über Fürsorgearbeit, die aus unerfindlichen Gründen immer noch als Frauenangelegenheit gilt. Foto: Hartmann