Warum Märchen früher nichts für Kinder waren

Carsten Kiehne Foto: Habel
Autor Carsten Kiehne hat sein Buch „Sagenhaftes Goslar“ vorgestellt. Darin befasst er sich mit alten Erzählungen, die in der Stadt entstanden sind. Und er klärt auf, warum Märchen früher alles andere als kindgerecht waren.
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Goslar. Eine unbekannte und fast vergessene Seite von Goslar lebte wieder auf. Carsten Kiehne aus Quedlinburg präsentierte einige Sagen, die in und um die Kaiserstadt spielten. Da verirrte sich ein Mädchen am Klusfelsen, fand eine offene Tür im Gestein und kletterte hinein. Plötzlich befand sie sich in einer prachtvollen Halle, umringt von würdigen Herren. Die schenkten ihr einen silbernen Teller. Wieder im Freien hob sie den Teller zum Himmel. Später erkannte das Mädchen im Huldigungssaal des Rathauses die Herren, es waren die Kaiser.
Viele Frauen und Männer drängten sich in der Buchhandlung Böhnert in der Kaiserpassage. Sie lauschten Kiehne; sein leidenschaftlicher Vortrag, seine mitreißenden Schilderungen schufen großes Kino vor inneren Augen. Auch stellte er sein aktuelles Buch vor, „Sagenhaftes Goslar“.
Geschichten dechiffrieren
„Ihr müsst die Geschichten dechiffrieren“, forderte der Sozialpädagoge und Autor. „Der silberne Teller steht für die wiedererwachte Sonne.“ Schon erklärte er, wie aus Mythen Märchen und schließlich Sagen entstanden. „In jeder steckt etwas Wahrheit.“ Denn diese Geschichten hätten aufklären sollen. Märchen ganz früher seien nicht für Kinder gewesen, „da steckte zu viel Sex drin“. Die Gebrüder Grimm hätten in ihren Schriften sämtliche Erotik gestrichen. Schon erzählte Kiehne vom Fabelwesen Rasselbock, der einem gehörnten Hasen geglichen hätte. Der habe besonders in der Paarungszeit sogar Menschen aufgelauert und äußerst unangenehm werden können. So hätten drei Frauen die Hilfe von drei Bergleuten gebraucht, als sie abends vom Rammelsberg absteigen wollten.
Kiehne ließ wieder den Klusfelsen zum Schauplatz werden. Eine junge Frau habe den Rat einer Hexe gebraucht. Der Autor breitete die Arme zum Publikum aus. „Was sind Hexen?“ Einzelne zaghafte Antworten kamen. Kiehne nahm sie auf, fasste zusammen: „Hexen waren ursprünglich Priesterinnen an Kraftorten. Der Klusfelsen war einer davon.“ Die junge Frau jedenfalls hatte ein Problem. „Mein Mann und ich lieben uns so sehr, wie wir uns streiten.“ Die Hexe habe ihr eine Phiole mit Osterwasser gegeben. Wenn Streit drohte, solle sie das Wasser im Mund behalten und später ausspucken. Ganz ohne Zauber habe danach Harmonie bei dem Paar überhand gewonnen. „Das lag nur am Osterwasser“, meinte Kiehne verschmitzt. Ein Lachen ging durch die Sitzreihen. Nun schilderte der Autor, was es mit Osterwasser auf sich habe.
Eine Mutprobe
„Junge Frauen gingen alleine, schweigend und barfuß durch Dunkelheit einen weiten Weg bis zu einer heiligen Quelle.“ Das sei eine Mutprobe, ein Initiationsritus gewesen. Das habe sie verändert. Auch erfuhr das Publikum, wie Moritz von Sachsen mit Dämpfen verbrannter Kräuter seine Ängste verlor und einen Räuber bei Wildemann stellte. Nach etwa 100 Minuten zitierte Kiehne: „Märchen sind Doping für Kinder. Tragt sie vor; sie schaffen Urvertrauen, da sie immer gut enden.“