„Unstierisches“ zeugt von Charakterstärke

Foto: Weber
Sonja Weber, künftig Gastgeberin der Bad Harzburger „Bücher-Heimat“, stellt in ihrer neuen Kolumne in der Goslarschen Zeitung Lesenswertes vor. Diesmal das Kinderbuch „Ferdinand der Stier“ von Munro Leaf/Robert Lawson aus dem Jahr 1936.
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Angesichts der Kampfhandlungen in der Ukraine und der Angst, die weltweit deshalb herrscht, fällt mir die Wahl des Buches für die nächste Kolumne schwer. Mir persönlich helfen Bücher immer, Mut zu fassen und positiv zu denken. Da gibt es viele!
Welches also möchte ich aus dem Regal ziehen? Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels empfiehlt als Zeichen der Unterstützung und Solidarität, ukrainische Autorinnen und Autoren zu besprechen. Ich laufe vor dem Bücherregal auf und ab und stelle fest, ich habe da nichts. Mit Georgien kann ich noch dienen, aber bei Ukraine muss ich passen. Das gilt es demnächst zu ändern, heute aber fällt mein Blick auf eines meiner Lieblingsbücher aus Kindertagen: „Ferdinand der Stier“ von Munro Leaf mit den Originalzeichnungen von Robert Lawson von 1935.
Nachdem es 1936 erschien, eroberte es die halbe Welt im Eiltempo. 1938 produzierte Walt Disney einen kurzen Trickfilm – in acht Minuten eroberte Ferdinand damals die Leinwand. 1967 stand das Buch auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, außerdem ist der starke und friedfertige Ferdinand Namenspate des 1971 ins Leben gerufenen Literaturpreises „Buxtehuder Bulle“.
Eine Zeit lang erschien das Buch im Parabel-Verlag mit Bildern von Werner Klemke. Ich persönlich liebe die Diogenes-Ausgabe und die Lawson-Zeichnungen mit ihrer Situationskomik: Ferdinand ist nicht wie die anderen Stiere, denn er sitzt am liebsten an seinem Lieblingsplatz unter einer Korkeiche und schnuppert an Blumen. Nie kam er auch nur im Entferntesten in die engere Auswahl für Stierkämpfe. Als er eines Tages doch in der Arena landet, schaffen es weder der Matador noch seine Helfer, Ferdinand aus der Ruhe zu bringen und die johlende Menge der Zuschauer interessiert ihn nur der vielen duftenden Blüten wegen, die die Damen im Haar tragen. So setzt er sich mitten in die Arena und schnuppert.
Ferdinand ist die komplette Fehlbesetzung im Kampf, aber die perfekte Wahl, wenn man ein Beispiel für Glück und Zufriedenheit benötigt. Der charakterstarke „unstierische“ Stier, den der Autor selbst einst als „philosophische Seele“ beschrieb, kehrt auf seine Weide zurück, auf seinen Lieblingsplatz unter der Korkeiche. Und „er ist sehr glücklich“. Sonja Weber