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Harz-Wissen

Eckertal: Ein kleiner Ort mit weltbewegender Geschichte

Eigentlich besteht Eckertal nur aus einer Straße und der Muna-Siedlung im Schimmerwald (oben rechts). Wie nah einst die Grenze zur DDR war, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, dass das Foto quasi direkt über dem einstigen Grenzfluss, der Ecker, entstand. Fotos: Kühlewind/GZ-Archiv

Eigentlich besteht Eckertal nur aus einer Straße und der Muna-Siedlung im Schimmerwald (oben rechts). Wie nah einst die Grenze zur DDR war, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, dass das Foto quasi direkt über dem einstigen Grenzfluss, der Ecker, entstand. Fotos: Kühlewind/GZ-Archiv

Eckertal. Es ist Bad Harzburgs kleinster Ortsteil, und so richtig als Dorf kann man Eckertal nicht bezeichnen. Kein Vereinsleben im herkömmlichen Sinne, keine Geschäfte, immerhin eine Gaststätte. Aber es findet sich wohl im weiten Umkreis keine Siedlung mit einer solch beeindruckenden Geschichte wie die Eckertaler. Eine Geschichte, die auch sehr eng mit der Deutschlands verbunden ist.

Mittwoch, 29.04.2020, 13:28 Uhr

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Ein beliebtes Ausflugsziel bis 1989: Der Grenzaussichtspunkt an der Ecker.

Ein beliebtes Ausflugsziel bis 1989: Der Grenzaussichtspunkt an der Ecker.

Bad Harzburger, die in den 80er-Jahren ihren Führerschein machten, führte ihre erste Fahrstunde – nach Eckertal. Die Straße dorthin war nämlich lang und leer. In Eckertal war die Welt zu Ende. Jedenfalls die westliche. Die Ecker war der eiserne Vorhang, auf der anderen Seite war die DDR. Wer in Eckertal wohnte, hatte seine Ruhe und nur ab und zu kamen Neugierige, die am Ende der Straße die Aussichtsplattform erklommen und ins andere Deutschland spähten. Viel zu sehen gab es da nicht. Aber immerhin: Es war ein Prickeln zu spüren, da drüben war Ostblock, hinter den Büschen und in den Wachtürmen waren „die Anderen“. Und das über Jahrzehnte.

Aber Eckertals Geschichte war schon viel früher besonders. Am 21. Juni 1896 wurde der Jungborn eröffnet, Deutschlands erste und einst größte Naturheilstätte. 30 Jahre später kamen pro Sommer schon bis zu 1000 Gäste. Zu DDR-Zeiten endete die Jungborn Ära, die heute aber von einem Verein nach und nach wieder zum Leben erweckt, mindestens aber in Erinnerung gehalten wird.

Im Dritten Reich hatte die Wehrmacht den Schimmerwald okkupiert. Sie richtete dort ein Munitionslager ein, es gab Bunker, Eisenbahnschienen, Verladestationen. Die 325 Hektar große Muna war das größtes Munitionslager der deutschen Luftwaffe nördlich des Mains. Sogar eine Siedlung für die Besatzung war gebaut worden, kleine Häuschen, die zur Tarnung idyllisch ausschauten, aber eigentlich Bunker waren. Wie bombensicher sie gebaut waren, erlebte dann in den frühen 2000er-Jahren Investor Andreas Klebig, als er die „Muna-Siedlung“ kaufte und zu schicken Wohnhäusern umbaute.

Das Pförtnerhaus der Muna-Siedlung.

Das Pförtnerhaus der Muna-Siedlung.

Die Muna selbst war da schon lange vom Erdboden verschwunden – aber noch Jahrzehnte tief im Erdboden drin. Denn als der Krieg 1945 endete, sprengte die Wehrmacht das Lager in die Luft. Man wollte die 30.000 Tonnen Munition nicht in die Hände der herannahenden Alliierten fallen lassen. Die Explosion muss gewaltig gewesen sein, im sieben Kilometer entfernten Bad Harzburger Bahnhof riss es das Schmuckfenster in Scherben. Jahrzehntelang hatte man anschließend in Eckertal mit dem Nazi-Erbe zu kämpfen – der Kampfmittelbeseitigungsdienst pflügte den Schimmerwald um, fand Bombe um Bombe, sprengte sie vor Ort oder entsorgte sie auf eigenem Gelände.

Im Kalten Krieg fiel Eckertal in den Dornröschenschlaf. Die deutsch-deutsche Grenze ging quasi mitten durchs Dorf, denn Stapelburg im Osten und Eckertal waren wie Geschwister. Nun trennte sie der Eiserne Vorhang. Der Bahnhof wurde nicht mehr als solcher gebraucht, die Eckertaler nutzen ihn lange als eine Art Dorfgemeinschaftshaus.

Dann kam der 11. November 1989 – und das kleine Eckertal schrieb wieder Weltgeschichte. Zwei Tage zuvor war die deutsch-deutsche Grenze in Berlin geöffnet worden, nun rissen die Menschen auch in Eckertal die Zäune nieder. In dem beschaulichen Ort spielte sich Historisches ab, Eckertal wurde aus dem Schlummer gerissen und war plötzlich Mittelpunkt der Welt. Über Tage und Wochen strömten die Menschen über die ehemalige Grenze (und wieder zurück). Nach heute erinnern jährliche Freudenfeste und immer mehr Denkmale an dieses epochale Ereignis.

Im Laufe der Jahrzehnte muss der Schimmerwald von tausenden Tonnen Munition – beispielsweise großen Fliegerbomben – befreit werden. Bei der Sprengung der Muna 1945 wurden sie großflächig verteilt. Und bei weitem nicht alles explodierte damals.

Im Laufe der Jahrzehnte muss der Schimmerwald von tausenden Tonnen Munition – beispielsweise großen Fliegerbomben – befreit werden. Bei der Sprengung der Muna 1945 wurden sie großflächig verteilt. Und bei weitem nicht alles explodierte damals.

In die Schlagzeilen kam der Schimmerwald noch einmal nach der Jahrtausendwende. Der damalige Nationalparkleiter Dr. Wolf-Eberhard Barth wollte eine Vision realisieren, die „WildTiernis“, eine in seinen Augen einzigartige Art von Tier-Freigehege. Es formierte sich massiver Widerstand bis hinauf in die Landespolitik. Die WildTiernis blieb Barths Traum. Heute spricht kein Mensch mehr davon.

Die turbulenten Jahre sind vorbei, in Eckertal ist Normalität und auch wieder viel Ruhe eingekehrt. Knapp 140 Menschen leben dort, Bad Harzburgs Tierheim ist in Eckertal ansässig, auch die Pappenfabrik Obenauf, es gibt ein Ausflugslokal und natürlich noch die Gaststätte Eckerkrug. Der Schimmerwald – frei von Munition und wilden Visionen – ist ein beliebtes Naherholungsgebiet. Aber die Eckertaler sind sich ihrer Geschichte bewusst. Überall finden sich Informations- und Gedenktafeln. Sei es zur Grenzöffnung, sei es zum Jungborn, sei es zur Muna. Einen Ausflug ist der kleine Ort allemal wert. Und wer die Ruhe mag, findet sie dort.

1896 wird der Jungborn gegründet. Heute versucht ein Verein, die Erinnerung daran am Leben zu erhalten.

1896 wird der Jungborn gegründet. Heute versucht ein Verein, die Erinnerung daran am Leben zu erhalten.

11. November 1989, 15.45: Norbert Heindorf aus Stapelburg schraubt den Grenzzaun auf.

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