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Naturschutz

Rehkitzretter: Einsatz mit Herzblut und Technik

Rehkitze sind gut versteckt - nur mithilfe von Technik lassen sich die Wildtiere aufspüren. Fotos: Privat

Rehkitze sind gut versteckt - nur mithilfe von Technik lassen sich die Wildtiere aufspüren. Fotos: Privat

Im vergangenen Jahr haben die Teams der Rehkitzrettung Goslar 208 Tiere gerettet. Auch jetzt sind sie wieder vor dem Mähen unterwegs.

Montag, 13.06.2022, 11:30 Uhr

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Zweiter Versuch. Der Wecker klingelt um 3 Uhr. Es braucht nicht lange, um putzmunter zu werden. Die Kitzretter warten nicht. Also los. Ab in Richtung Watenstedt. Es ist der zweite Versuch. Drei Tage zuvor waren die Kitzretter rund um Calbecht im Einsatz gewesen. Doch: Kein Kitz weit und breit. Und eine Reportage über Kitzrettung ohne Kitz? Geht nicht. Also: zweiter Versuch. Treffpunkt ist dieses Mal ein Feldweg in der Nähe der Hauptverwaltung der Salzgitter AG. Die Kitzretter – eines von mehreren ehrenamtlichen Teams des Nabu Goslar – sind schon da. Anika Knop, Henry Knop, Olaf Krüger und Melanie Lorenz aus Lutter sind in dieser Zusammensetzung zum ersten Mal unterwegs, kennen sich aber alle gut.

Fania Fulst weiß, wo genau die Wiese ist, die das Team an diesem Morgen als erstes absuchen soll. Mit einer Drohne. Denn die etwa 13 Hektar große Wiese soll noch am Morgen gemäht werden, damit die Schafe und Galloways, die die Familien Fulst und Friedrichs halten, im Winter genug zu fressen haben. Das Problem: In Mai und Juni setzen die Ricken ihre Kitze. Und in den ersten Tagen können die der Mutter nicht folgen. Die Ricke legt sie zum Beispiel in einer Wiese ab und säugt ihren Nachwuchs regelmäßig. Wird die Wiese gemäht, flüchten die ganz jungen Kitze nicht. Ihr Todesurteil. Um genau das zu verhindern, sind unter anderem die Kitzretter des Nabu Goslar im Einsatz. Aber auch die Jägerschaft Salzgitter hat inzwischen ein Drohnenteam, das zweite wird gerade aufgebaut.

9000-Euro-Drohne

Henry Knop macht seine Drohne flugfertig. Ein Hightech-Gerät mit extrem leistungsstarker Kamera. 9000 Euro hat der Elektromeister im Ruhestand dafür ausgegeben. „Vorher sind wir die Wiesen bei uns im Ort immer abgegangen. Mit vielen Leuten und Hunden. Dicht an dicht. Und trotzdem haben wir die Kitze nicht gefunden“, schildert Knop. Nun also habe er sich die Drohne zugelegt und ist – ehrenamtlich damit unterwegs. Dass ein Pilot seine Drohne selber kauft, ist übrigens die Ausnahme. Im Normalfall stellen Nabu oder die Jägerschaften die Drohnen.

Es dauert nicht lange, und die Drohne startet. Die Helfer und Fania Fulst sowie ihre sechsjährige Tochter Milena schauen gebannt auf den Monitor. Es dauert nur wenige Minuten – und der erste „verdächtige“ Punkt ist auf dem Monitor zu sehen. Die Kamera arbeitet sowohl im Wärmebild- als auch im Normalmodus. Wobei die im hohen Gras perfekt getarnten regungslos liegenden Kitze im Normalbildmodus so gut wie gar nicht zu sehen sind. Nicht einmal mit bloßem Auge, wenn man direkt daneben steht. Das sollten alle Beteiligten an diesem Morgen noch hautnah erleben.

Anika Knop und Olaf Krüger machen sich – mit Wäschekorb und Kescher ausgerüstet – auf den Weg. Henry Knop dirigiert sie per Funkgerät. „Noch ein Stück weiter. Links von dir. Vorsichtig. Da jetzt genau vor dir“, gibt er Anweisungen. Anika Knop und Olaf Krüger tasten sich vorsichtig vorwärts. Schieben das bauchhohe Gras vorsichtig mit Händen und Füßen zur Seite. Und dann: Nichts. Oder besser: fast nichts. Denn es ist ganz deutlich eine Liegestelle zu sehen. Die Wärmebildkamera, die stets über den Rettern schwebt, zeigt ganz deutlich noch Wärme. Heißt: Hier leg gerade noch ein Tier. Ein Kitz? Eine Ricke oder ein Fuchs? Die Retter wissen es nicht. Was sie aber alle wissen: Als das Team die Wiese betreten hatte, hatte ein Reh laut gerufen. Die geübten Ohren des Drohnenteams hatten es sofort erkannt. Klar ist also: Hier gibt es Rehe.

Die Drohne fliegt weiter. Die beiden Helfer bleiben an Ort und Stelle. Mitten in der Wiese stehen sie. Systematisch fliegt Henry Knop die Wiese weiter ab. Und dann: Bleibt die Drohne erneut in der Luft stehen. Ein sicheres Zeichen für die beiden Helfer mitten im hohen Gras: Der Pilot hat etwas entdeckt. Und tatsächlich.

Noch kein Fluchtinstinkt

Die Aufforderung zum Losstapfen kommt über Funk. Und dieses Mal ist es tatsächlich ein Kitz. Vermutlich höchstens zwei Tage alt. Es hat noch gar keinen Fluchtinstinkt, meckert auch nicht. Zusammengekauert liegt es im hohen Gras und lässt sich von Melanie Lorenz, die sich vom Wiesenrand aus ebenfalls auf den weg gemacht hatte, in den Wäschekorb setzen. Sie hat Handschuhe an und rupft ein wenig Gras ab, bevor sie das Kitz anfasst. Das Kitz selber ist übrigens in den ersten Lebenstagen geruchlos, damit Feinde wie Füchse es schwerer haben, es aufzuspüren. Würde es jedoch von Menschen angefasst, würde die Mutter es ob des fremden Geruchs womöglich nicht mehr annehmen.

Kitz gesichtet

Melanie Lorenz bringt das Kitz zum Rand der Wiese. Der Rest des Retterteams bleibt an der Fundstelle. Die Wiese ist schließlich noch groß. Zeit für einen kleinen Plausch. Warum stehen die beiden mitten in der Nacht auf und stapfen durch nasses Gras. Ehrenamtlich. Auch wochenends. Neben Job und Familie? „Aus Liebe zum Tier. Um ihnen das Leben zu ermöglichen“, sagt die 36-jährige Anika Knop, pädagogische Mitarbeiterin, die selber zwei Kinder hat, morgens um 4.30 Uhr mitten in einer Wiese bei Watenstedt. Olaf Krüger, Jäger übrigens – genau wie Drohnenpilot Henry Knop –, habe schon Kitze erlösen müssen, die unter die Messer des Mähers geraten waren. „Die Schneidwerke hatten den Kitzen die Läufe abgetrennt“, erinnert sich der 51-jährige KFZ-Meister, der als Berufsschullehrer arbeitet. Fürchterliche Erlebnisse, die in der Vergangenheit jedoch keine Seltenheit waren. Unter anderem genau deshalb setzen immer mehr Landwirte oder Hobby-Landwirte wie die Familie Fulst auf die Drohnentechnik. „Bei mir wird keine Wiese gemäht, die nicht vorher abgeflogen worden ist“, bekräftigt Berufsfeuerwehrmann und Hobby-Schafzüchter Sören Fulst.

Und plötzlich verharrt die Drohne wieder an einer Stelle in der Luft. Anika Knop und Olaf Krüger sind startklar. Und richtig. Da kommt die Aufforderung auch schon über Funk. „Kitz gesichtet.“ Dieses Mal ist der Weg weit. Das Gras ist hoch, das Gelände hügelig. Die Drohne zeigt den Weg. Und als sich die Helfer ihr nähern, gibt es die Anweisungen auf den letzten Metern wieder über Funk. Und tatsächlich. Ein Kitz. Deutlich mobiler und wehrhafter als das erste. Doch auch dieses ist schnell eingefangen. Ab in den Korb. Netz drüber. Und ab geht es in Richtung Wiesenrand. Dieses Mal ist die Reporterin im Einsatz, denn der Weg ist weit, die Kitzretter bleiben an Ort und Stelle. Melanie Lorenz ist auf halbem Weg da, übernimmt das Kitz und überreicht einen neuen Korb. Nur gut, denn nur wenige Augenblicke später findet die Drohne das nächste Kitz. Auch das ist schon ein wenig mobiler. Anika Knop setzt ihren Kescher ein – und hat Erfolg. Auch Nummer drei an diesem Morgen landet – trotz lauten Protests – im Wäschekorb. Am Rand der Wiese ruft die Ricke. Läuft ein paar Meter in unsere Richtung, dreht wieder ab.

Henry Knop ist fertig. Die Wiese ist abgesucht. Was für ein Erfolg. „Hier haben wir in den vergangenen Jahren nie ein Kitz gefunden“, sagt Fania Fulst. Denn eigentlich ist es im Umfeld der riesigen Wiese ganz schön belebt. Die Hauptverwaltung der Salzgitter AG, das Ikea-Lager und gleich nebenan auch noch der Flugplatz Drütte.

Erfolgreiche Rettung

Doch in diesem Jahr haben sich offenbar mindestens zwei Ricken entschieden, ihren Nachwuchs hier zu bekommen. Das Team vermutet, dass die Kitze zwei und drei Zwillinge sind. Sie lagen recht nah beieinander und waren beide schon ziemlich laut und mobil. Gut gesichert bleiben die Kitze am Rand der Wiese unter den Wäschekörben liegen. Sobald die Wiese am Vormittag gemäht ist, wird Familie Fulst die Kitze wieder in die Freiheit entlassen. Die Mütter bleiben in der Nähe und werden ihren Nachwuchs dann schnell finden.

Die nächste Wiese liegt gleich hinter der ersten. Der Umzug ist schnell erledigt, die Drohne fix wieder startklar. Und es dauert nicht lange, da hat Henry Knop die erste Sichtung. „Ricke mit Kitz“, heißt es – und die Retter stapfen los. Wenig später: Es sind zwei Kitze. Kurzerhand wird auch die Reporterin mit Handschuhen und Wäschekorb ausgestattet. Los geht es. Und auch dieses Mal zeigt sich: Die Kitze sind schon ein paar Tage alt. Sie versuchen zu flüchten. Kitz Nummer eins ist dank des Keschers dennoch schnell gesichert. Kitz Nummer 2 flüchtet durchs hohe Gras. Die Verfolgung läuft auch mit Unterstützung der Drohne. Wie gut. Denn wir stehen nur zwei Meter auseinander und sehen das Kitz im hohen Gras zwischen uns nicht. Aber die Drohne – und so ist auch Nummer fünf an diesem Tag am Ende schnell gefangen. Jetzt sind die Wäschekörbe knapp. Henry Knop hat noch eine neue faltbare Hundebox aus Stoff im Auto. Auch die eignet sich super. Und so bleiben auch die Kitze vier und fünf des Tages sicher am Rand der Wiese liegen, während sich das Team aufmacht zur letzten Wiese des Tages. Der Jagdpächter dort ist bereits verständigt. Er wird weitere Wäschekörbe mitbringen.

Fuchs gesichtet

Es geht nach Cramme. Auch dort mähen die Familien Fulst und Friedrichs eine Wiese. Gerhard Schwetje wartet schon. Er ist Landwirt und Jäger. Und hat Körbe dabei. Er staunt nicht schlecht, als das Team von den fünf Kitzen berichtet. „Hier hatten wir die vergangenen Jahre eigentlich immer ein Kitz“, sagt Fania Fulst. Na dann. Sechs Kitzretter – inklusive Fania und Milena Fulst – sechs Kitze. Würde doch passen. Es dauert tatsächlich nur wenige Augenblicke – und Henry Knop meldet eine Sichtung. Das Team läuft los. Doch dann: „Es ist ein Fuchs. Ich habe deutlich die Lunte erkennen können“, meldet Henry Knop. Aber die Verschnaufpause im hohen Gras währt nicht lange. „Ricke mit Kitz voraus. Die beiden flüchten.“

Das Team sieht dann tatsächlich die Ricke im angrenzenden Wäldchen verschwinden. Ihr Kitz aber ist zu jung, um ihr zu folgen. Es liegt tatsächlich im hohen Gras. Und ist schnell eingefangen. Auch Kitz Nummer sechs wird am Rande der Wiese im Wäschekorb gesichert und nur wenige Stunden später wieder freigelassen.

Es ist 7.20 Uhr, als das Kitzretterteam alle drei Wiesen abgesucht hat. Sechs Kitze – was für ein Erfolg. Fania Fulst serviert Kaffee und Sandwiches. Viel mehr als das Frühstück aber genießen die Kitzretter das wundervolle Gefühl, sechs Leben gerettet zu haben. Von Stefani Koch, Funke Medien Gruppe

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