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Afghanistan-Experte Dr. Erös

Entwicklungshelfer beweist scharfe Zunge bei Vortrag in Goslar

Dr. Reinhard Erös

Dr. Reinhard Erös

Seit den 1980er-Jahren leistet Dr. Reinhard Erös Entwicklungshilfe in Afghanistan. Er baut Schulen und Krankenstationen. In Deutschland hält er Vorträge über das Land, die Leute, das Versagen des Westens. Dabei geht es zur Sache, wie beim Rotary-Club in Goslar deutlich wurde.

Von Hendrik Roß Donnerstag, 21.07.2022, 12:00 Uhr

Goslar. Dr. Reinhard Erös regt sich auf – und das eigentlich schon seit Jahrzehnten. Seit den 1980er Jahren leistet er in Afghanistan humanitäre Hilfe. Und er spricht darüber: Mehr als 3000 Vorträge habe er schon gehalten, dabei spart er nicht mit donnernder Kritik am Westen – ob nun Politiker, Berichterstatter oder auch seine Zuhörer, alle kriegen ihr Fett weg, wenn Erös loslegt.

Nun war der 74-jährige ehemalige Bundeswehrarzt auf Einladung des Goslarer Rotary-Clubs im Rammelsberghaus zu Gast, um über Afghanistan zu sprechen, das seit etwa einem Jahr wieder von den Taliban regiert wird.

Von Komfortzonen und Umgangsformen hält der Oberpfälzer nicht viel. „Es kotzt mich an, dass in Deutschland immer alles mit Geld geregelt werden soll“, platzt es während seines Vortrags aus ihm raus. Der Afghanistanexperte schont auch Publikum und Gastgeber nicht. Erös schmeißt schockierende Kriegsbilder an die Wand, Kinderleichen, Fotos von zerfetzten Körpern. Immer wieder wird er laut und verteilt giftige Spitzen. „Bitte verlassen Sie sofort den Saal“, donnert er einer Besucherin entgegen, die sein polterndes Auftreten kritisiert. „Ich bin doch nicht die katholische Kirche“, schleudert er den Goslarer Rotariern an den Kopf, die am Rand ein Spendenglas aufgestellt haben.

Gäste verlassen den Saal

Einige Gäste verlassen tatsächlich schimpfend den Saal. Selbstherrlich und unverschämt nennen sie den Referenten. Doch eins ist klar, einen Abend mit Entwicklungshelfer Reinhard Erös vergisst niemand so schnell. Seine Auftritte sind berüchtigt, er selbst ist dennoch hoch dekoriert: Europäischer Sozialpreis, Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, Theodor-Heuss-Medaille – um einige Preise zu nennen. Am liebsten spricht er in Schulen, will junge Menschen wach rütteln, sich gefälligst für Politik zu interessieren. Schließlich sollen sie es irgendwann einmal besser machen.

„Womit haben wir das Paradies, in dem wir leben, eigentlich verdient?“ Diese Frage habe sich bei ihm eingebrannt, als er 1978 als junger Mediziner in Kalkutta humanitäre Hilfe leistete, wo Menschen elendig krepiert seien. „Wir wählen den Notruf und sind in 20 Minuten im Krankenhaus – und das völlig umsonst.“ Diese Ungerechtigkeit habe ihn nie losgelassen. Erös war als Arzt in etlichen Krisengebieten der Welt unterwegs und entdeckte in den 1980er Jahren seine Liebe zu Afghanistan, „eines der schönsten Länder auf diesem Planeten“.

In den 1960er und 1970er Jahren sei Afghanistan noch ein Sehnsuchtsort für Hippies gewesen – Stichwort: Schwarzer Afghane. Deutsche Firmen wie Siemens oder BASF hätten Niederlassungen am Hindukusch unterhalten, die Regierung dort sei unpolitisch und tolerant gewesen. Frauen in Kabul seien in kurzen Röcken durch die Stadt flaniert. Das alles habe sich mit dem Einmarsch der Sowjetunion am Heiligabend 1979 geändert – der Beginn eines „40-jährigen Krieges“, sagt Erös. Und der habe sämtliche Beziehungen zerstört.

Schockierende Zustände

Ihn selbst habe der Zustand der medizinischen Versorgung in Afghanistan schockiert: 1986 ließ sich Erös vier Jahre von der Bundeswehr beurlauben, und zog mit Frau und Kindern an die afghanisch-pakistanische Grenze, um medizinisches Personal auszubilden.

Bis 2001 habe sich niemand im Westen für Afghanistan interessiert. Dann kam der Anschlag auf das World Trade Center und Kanzler Gerhard Schröders „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA im folgenden Krieg. Erös verließ die Bundeswehr und widmete sich voll der Kinderhilfe Afghanistan, die er zusammen mit seiner Frau Annette 1998 gegründet hatte.

Sie bauten Schulen und Mutter-Kind-Kliniken am Hindukusch– alle Projekte laufen bis heute. Derzeit sei vor allem die Hungersnot das größte Problem, berichtet Erös. Die Kinderhilfe Afghanistan verteilt seit Herbst 2021 Lebensmittel an die ländliche Bevölkerung.

Am „wohl teuersten Militäreinsatz in der Geschichte der Menschheit“, der 2021 mit dem Abzug der Nato ein jähes Ende fand, lässt Erös kein gutes Haar. Hunderttausende tote und geflüchtete Zivilisten, grassierende Korruption und einen milliardenschweren Heroinmarkt, das hätten die vergangenen 20 Jahre Afghanistan gebracht.

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