ESC: Schafft Deutscher Malik Harris mehr als letzten Platz?
Malik Harris aus Deutschland tritt mit dem Titel „Rockstars“ an. Foto: Jens Büttner/dpa
Der Eurovision Song Contest bringt einmal im Jahr Musikfans aus ganz Europa sowie Australien zusammen. In diesem Jahr steht die bunte Party im Schatten des Ukraine-Krieges. Ein klarer Favorit steht schon fest – doch wo könnte Deutschland landen?
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Vertreter aus 25 Ländern sind an diesem Samstag ab 21 Uhr beim Finale des Eurovision Song Contests (ESC) dabei. Die 66. Ausgabe des Grand-Prix wird im norditalienischen Turin ausgetragen, nachdem die italienische Band Måneskin im vergangenen Jahr in Rotterdam mit ihrem Rocklied «Zitti e buoni» den Sieg errang. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine überschattet in diesem Jahr den Musikwettbewerb – bei dem Politik eigentlich keinen Platz haben soll, so wie sich das die Organisatoren vor über 60 Jahren einmal ausdachten.
Bei den Buchmachern steht der ukrainische Beitrag «Stefania» des Kalush Orchestras seit Wochen als klarer Favorit auf Platz eins. Das Lied ist eine Mischung aus Rap und ukrainischer Volksmusik. Gewidmet hat es Frontmann Oleh Psjuk seiner Mutter. Die Band kündigte in sozialen Medien an, die Gewinner-Trophäe bei einem Sieg für wohltätige Zwecke versteigern zu wollen. Die sechs Musiker aus dem Westen der Ukraine dürften viele solidarische Stimmen des Publikums erhalten. Bereits am Dienstag qualifizierten sie sich im ersten Halbfinale - ihr Weiterkommen galt als recht sicher.
Deutschlands Vertreter Malik Harris wird als 13. im Anschluss an die Ukrainer auf der Bühne stehen und sein Lied «Rockstars» singen. Der Platz im Ablauf direkt nach dem Favoriten gilt als unvorteilhaft. Der 24-Jährige sah das gelassen. «Für mich ist der ESC überhaupt nicht so ein Wettbewerb», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Für ihn gehe es mehr darum, auf der Bühne zu spielen, als um die Platzierung.
Die Buchmacher rechnen seinem Popsong, in dem es um die Kindheit geht, als alle noch kleine «Rockstars» waren, kaum Chancen aus. Am Freitag lag er bei internationalen Wettanbietern auf dem letzten Platz. Im Vorjahr belegte Deutschland mit Jendrik und «I Don't Feel Hate» schon den vorletzten Platz. Schlechter schnitten damals nur die Briten ab, die in diesem Jahr mit Sam Ryder und «Space Man» zu den Kandidaten für die Top Fünf zählen.
Am Ende entscheiden das Publikum und die Jury über die Platzierungen. Neben den Juroren können auch die Zuschauer zu Hause abstimmen. Sie dürfen nur nicht für ihr eigenes Land votieren. Das Erste überträgt den internationalen Gesangswettbewerb live ab 21 Uhr.
Hier der Kompass fürs Finale:
Tschechien: We Are Domi – „Lights Off“. Beziehungsende, Lichter aus, Neustart. „Wo bist du jetzt, wenn ich dich vermisse?“ Elektro mit der klaren Botschaft: Endlich wieder feiern! Der Saal tobt.
Rumänien: WRS – „Llámame“. Eine Hymne für Vielfalt und die Geschichte vom hässlichen Entlein – Latino-Power mit kurzem Männerpaartanz.
Portugal: Maro – „Saudade, Saudade“. Saudade, das portugiesische Lebensgefühl zwischen Sehnsucht und Weltschmerz – Trauerrunde für den verstorbenen Großvater. Ergreifend!
Finnland: The Rasmus – „Jezebel“. Mit „In the Shadows“ auf Platz eins in Deutschland versucht es die Band aufs Neue. Ihre „Jezebel“ ist wie die biblische Isabel: verführerisch und gefährlich zugleich.
Schweiz: Marius Bear – „Boys Do Cry“. Wenn des Nachts der Wolf heult, dann nicht, weil er stark ist, sondern weil er nach Liebe schreit. Auch Jungs weinen! Leise Ballade des gelernten Mechanikers über Geschlechterrollen.
Frankreich: Alvan & Ahez – „Fulenn“. Bretonisch gesungener Elektropop entführt in die Tiefen der französischen Elfenwälder. Eine düstere Legende über den Tanz eines jungen Mädchens mit dem Teufel, feministisch erzählt. Der Funke (Fulenn) könnte durchaus zünden.
Norwegen: Subwoolfer – „Give That Wolf A Banana“. „The Masked Singer“ erobern die ESC-Bühne: Soll man den außerirdischen und nicht-binären Wölfen die Großmutter opfern oder eine Banane anbieten? Wirkungsvoll und spaßig. Doch wer singt da überhaupt live?
Armenien: Rosa Linn – „Snap“. Befreiung aus selbst gewählter Isolation nach einer Trennung – wenn das doch mit einem Fingerschnippen getan wäre! Eingängiger, radiotauglicher Pop.
Italien: Mahmood & Blanco – „Brividi“. Der italienische Begriff „Brividi“ lässt sich mit „Schaudern“ oder „Prickeln“ übersetzen – ausgelöst durch eine intensive, aber toxische schwule Liebesbeziehung! Einfühlsam, bewegend, aber stimmlich leider nicht immer meisterhaft. Die Sieger des international bedeutenden San-Remo-Festivals genießen Favoritenstatus.
Spanien: Chanel – „SloMo“. Auf „Brividi“ folgt der Holzhammer einer Las-Vegas-Show: eine der wenigen Up-Tempo-Nummern im Finale. Gefährlich perfekt und eingängig, aber als Rollenmodell ungeeignet. Fanfavorit!
Niederlande: S10 – „De Diepte“. Gefangen in einem Käfig aus Depression und Psychose sehnt sich Stien (S10) nach Befreiung. Authentisch und berührend!
Das Kalush Orchestraist benannt nach seiner ukrainischen Heimatstadt. Foto: Imago
Ukraine: Kalush Orchestra – „Stefania“. Mitreißende Mischung aus Folklore und Rap, dazu ein Schuss Exzentrik. Noch vor dem Krieg als Ode an die Mutter des rosa behelmten Rappers geschrieben, aber mit prophetischer Textzeile: „Ich werde immer meinen Weg nach Hause finden, auch wenn alle Straßen zerstört sind.“ Buchmacherfavorit!
Deutschland: Malik Harris – „Rockstars“. Szenerie: das Kellerstudio des 24-jährigen Sängers. Handlung: Malik spielt mithilfe einer Loop-Station seinen Song ein. Inhalt: Als Kinder waren wir Rockstars ohne Furcht, mit dem Erwachsenwerden fürchten wir uns, ein Niemand zu sein. Authentisch, ehrlich, radiotauglich und dennoch leider wenig Chancen auf viele Punkte.
Litauen: Monika Liu – „Sentimental“. Auch wenn sie litauisch singt, klingt es wie ein französisches Chanson – mit viel Eleganz, Verve und Charme vorgetragen. Sentimentale Erinnerung an eine verlorene Liebe – wie sie damals in den Dünen der Kurischen Nehrung stand und er durch dunkle Gischt auf sie zuschwamm.
Aserbaidschan: Nadir Rustamli – „Fade to Black“. Ein rothaariger Barde trauert stimmgewaltig um eine Beziehung. Dabei singt er viel über das Wetter. Ein Stimmungsaufheller wäre danach hilfreich.
Belgien: Jérémie Makiese – „Miss You“. Es folgt weiterer Liebeskummer: Belgien schickt einen großartig singenden Profitorwart mit vier Tänzern. Würden diese mitsingen, wäre es die perfekte Boyband. Der Ausgang des Abends wird entscheiden: Fußball oder Gesangskarriere?
Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord – „Die Together“. Eindrückliche griechische Tragödie: gemeinsam zu sterben als dysfunktionaler Lösungsvorschlag für eine toxische Beziehung? Leicht Furcht einflößend!
Island: Systur – „Með Hækkandi Sól“. Die Botschaft ist klar und schön wie die Stimmen: Auf jeden dunklen Winter folgt im Frühling Sonnenschein! Wenn sie nicht singen, engagieren sich die Schwestern (Systur) für Transmenschen – und für ihren Bruder, den sie als Schlagzeuger mitbringen.
Moldawien: Zdob şi Zdub & Advahov Brothers – „Trenulețul“. Folkloristisch-rockiger Gassenhauer, vordergründig über eine Fahrt mit dem Zug (Trenulețul) von Chișinău ins rumänische Bukarest, hintergründig über die Sehnsucht nach EU-Anbindung. Zum Mitklatschen!
Schwedens Helene Fischer: Cornelia Jakobs. Foto: afp
Schweden: Cornelia Jakobs – „Hold Me Closer“. Das neunte Beziehungsende des Abends liefert Schweden. Liebesglück suchen wir in diesem Jahr vergeblich. Die typisch schwedische Erfolgsware liegt in den Wetten auf Platz drei.
Australien: Sheldon Riley – „Not The Same“. Queeres Selbstbewusstsein in einer 40 Kilogramm schweren Robe. Das Abnehmen der Gesichtsmaske symbolisiert den Befreiungsschlag nach erlittenen Verletzungen. Sheldons Vorbild: Conchita Wurst.
Großbritannien: Sam Ryder – „Space Man“. Stimmlich geht er ab wie ein Raumschiff, der sehr hippelige, langhaarige Brite in seinem Raumfahrer-Overall. Doch brauchen Astronauten Gitarrensoli? In den Wetten auf Platz zwei.
Polen: Ochmann – „River“. Polnische Saudade: Ein Mensch nach dem Zusammenbruch – erledigt, fertig und kraftlos – bittet Gott, seinen Körper vom Fluss hinwegtragen zu lassen. Herzergreifend trauriger Gospel!
Serbien: Konstrakta – „In Corpore Sano“. Minimalistisch und rhythmisch – dazu eine starke Botschaft: Gesundheitskult als neue Religion birgt Gefahren. Zumal nicht immer in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist steckt. Artifiziell und besonders!
Estland: Stefan – „Hope“. Am Ende des Abends: Hoffnung in einer apokalyptischen Welt im Western-Style und in Sepiafarben mit einem dauergrinsenden, jungen Johnny Cash. Fanliebling!
Von Martin Schmidtner und Marc Schulte, Funke-Mediengruppe / dpa