Die traurige Ruhe nach dem Sturm

Ein zerstörtes Auto auf einer Landstraße bei Butscha.
Massengräber, erschossene Zivilisten, Folterspuren. Die russische Armee soll in Butscha Kriegsverbrechen begangen haben. Der Kiewer Vorort wurde zum Symbol der Brutalität des Krieges – Reportage aus einer Stadt in Trümmern.
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Die Männer fluchen und schwitzen. Der schmale rote und lehmverschmierte Holzsarg rutscht immer wieder aus dem Haltegurt. Es ist eine Aufgabe, die neu für sie ist, sie sind keine professionellen Totengräber, sondern Soldaten der territorialen Verteidigungskräfte. Sie wollen ihren Kameraden umbetten, der hier vor wenigen Tagen beerdigt wurde, er soll näher an dem Grab seines Vaters liegen. Allein auf dem neuen Gräberfeld des Friedhofs von Butscha liegen 40 Menschen, Opfer des Moskauer Angriffskrieges auf die Ukraine.
Butscha, eine Kleinstadt am nordwestlichen Stadtrand der ukrainischen Hauptstadt Kiew, ist wie keine andere zum Symbol des Wahnsinns und der Brutalität des Krieges geworden. Als die russische Armee Butscha nach einmonatiger Besetzung Anfang April verließ, gingen entsetzliche Bilder durch die Welt. Auf ihnen waren die Leichen von Zivilisten in den Straßen der Stadt zu sehen. Sie sollen von den russischen Besatzern getötet worden sein. „In Butscha wurden 416 Menschen ermordet“, sagt Anatoly Fedoruk. Er ist seit 1998 der Bürgermeister der Kleinstadt. Vor dem Krieg, erzählt Fedoruk, habe sich seine Stadt dynamisch entwickelt. „Wir haben im Rahmen unserer Möglichkeiten viel in die Infrastruktur, in Grünanlagen, in Schulen und Kindergärten investiert.“
Einen Monat nach dem russischen Abzug sind die Zerstörungen im Stadtbild noch allgegenwärtig. In der Nähe des Friedhofs sind die Reste eines großen Einkaufszentrums zu sehen. Tote schwarze Bäume stehen vor den Ruinen von Wohnhäusern. In der gesamten Stadt sind fast 1200 Gebäude zerstört oder beschädigt worden, sagt der Bürgermeister. „Ein Monat der Okkupation hat uns um Jahrzehnte zurückgeworfen.“
„Was wollt ihr hier?“
Ein Fahrradfahrer ist mit seinem Sohn unterwegs. „Was wollt ihr hier?“, herrscht er die Journalisten aus Deutschland an. „Unsere Regierung hat die Russen provoziert. Sie wären sonst nicht zu uns gekommen. Wir waren friedliebend. Und dann haben sich die Russen und unsere Leute hier in unserer Stadt bekämpft.“ Es kommt beinahe zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem ukrainischen Übersetzer. Er ist wütend. „Manche Menschen geben immer dem Staat die Schuld“, sagt er.
Hinter der prächtigen St.-Andreas-Kirche unterbricht Lehmboden die sattgrüne Rasenfläche. Hier war eines der beiden Massengräber, die hinter der Kirche entdeckt wurden. 105 Tote wurden allein hier exhumiert, berichtet Bürgermeister Fedoruk. „Andere Massengräber waren an den Straßen. Sie haben die Menschen in ihren Häusern, Parks oder einfach auf den Bürgersteigen getötet und gefoltert.“
Nahe der Kirche schleppt Anatoly Danelow seine Einkäufe. Es gibt in Butscha wieder Supermärkte, die geöffnet haben. Danelow ist einer der etwa 3000 von früher rund 35.000 Einwohnern der Stadt, die blieben, als die Russen nach Butscha kamen. Der bullige Mann mit dem schwarzen Vollbart arbeitet als Wächter auf einem Markt. „Die Russen haben alle jungen Männer verhaftet, von denen sie dachten, dass sie 2014 im Osten gekämpft haben“, berichtet er. Was mit ihnen geschehen ist, wisse er nicht.
Einmal sei er von russischen Soldaten gestoppt worden. „Einer hat mich gefragt, ob ich ein Smartphone habe. Ich habe erst Nein gesagt. Er hat mir gesagt, wenn er mich durchsuchen würde und eines fände, würde es sehr schlimm für mich werden.“ Also gab Danelow dem Mann sein Telefon. „Er hat sich alle Fotos angeschaut. Zum Glück hatte ich nichts drauf, was gefährlich gewesen wäre. Die SIM durfte ich behalten, das Telefon hat er genommen.“ Als die Soldaten seinen Pass kontrollieren, sehen sie seinen russischen Nachnamen. „Mein Vater stammt aus Russland.“ Er glaubt, dass ihm das das Leben gerettet hat. Nach diesem Erlebnis verbringt der 35-Jährige einige Tage in dem Markt, in dem er arbeitet. „Ich habe beobachtet, wie sie Ende März überhastet abgezogen sind. Jetzt habe ich vor nichts mehr Angst.“
Auf dem Friedhof von Butscha haben es die drei Männer geschafft, den Sarg ihres Kameraden aus der Erde zu hieven. Drei Reihen weiter stehen ein Mann und eine Frau stumm vor einem frischen Grabhügel. Hier liegt Katharina. Sie ist die Nichte von Anton Furmanyuk. Als sich Katharina und ihre Mutter am 2. März in Sicherheit bringen wollten, wurde ihr Auto von russischen Truppen beschossen, erzählt Furmanyuk. Einen Tag später erlag das Mädchen seinen Verletzungen. Katharina wurde 15 Jahre alt.
Von Jan Jessen, Funke Medien Gruppe