100 Tage Rot-Grün in Niedersachsen: Erst Turbo, dann träge?

Abgeordnete sitzen im Landtag.
Die Neuauflage von Rot-Grün war das Wunschbündnis von Niedersachsens Ministerpräsident Weil. Entsprechend schnell wurde die Koalition geschmiedet. Mit dem Energie-Sofortprogramm kam sie auch schnell ins Handeln. Doch die nächsten Schritte werden mehr Zeit brauchen.
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Hannover. Wer mit den Mitgliedern der niedersächsischen Landesregierung spricht, hört viel von „Turbo-Tempo“ und der „neuen Deutschlandgeschwindigkeit“. Jetzt wird alles schneller, soll das heißen, gerade wenn es um Infrastruktur- und Energieprojekte geht. Und tatsächlich hat die von Ministerpräsident Stephan Weil angeführte Regierung aus SPD und Grünen schon wenige Wochen nach ihrer Wahl mit einem rund eine Milliarde Euro schweren Sofortprogramm in der Energiepreiskrise ihr erstes Wahlversprechen eingelöst. Allerdings: Viele weitere rot-grüne Pläne hängen noch in der Luft.
Weil: „Ausgesprochen guter Start“
So ist es kein Wunder, dass SPD-Politiker Weil vor allem auf das Energie-Sofortprogramm verweist, wenn er Rot-Grün einen „ausgesprochen guten Start“ in die Wahlperiode attestiert. Für den Regierungschef ist es bereits die dritte Amtszeit. Nach fünf Jahren Koalition mit der CDU kann er nun, wie schon von 2013 bis 2017, wieder mit den Grünen zusammenarbeiten. So wie er es sich vor der Wahl am 9. Oktober erhofft hatte.
Die Inhalte des Koalitionsvertrags waren somit schnell gefunden: Die Gründung einer landeseigenen Wohnungsgesellschaft gehört dazu, die Einrichtung eines Niedersachsenfonds für mehr Investitionen, ein landesweit gültiges 29-Euro-Ticket für Schüler, Azubis und Freiwilligendienstler oder auch die Anhebung der Bezahlung von Grund-, Haupt- und Realschullehrern auf das Niveau der Gymnasiallehrer. Bereits am 7. November wurde der Koalitionsvertrag unterzeichnet, die neue Regierung am 8. November vereidigt.
Doch auch wenn mittlerweile regionale Flächenziele für den Windkraft-Ausbau vorgestellt wurden und sich die Wissenschaft über einen Geldsegen aus dem Börsengang von Porsche freuen kann: Bei einigen zentralen Vorhaben von Rot-Grün ist mit einer Umsetzung noch in diesem Jahr nicht mehr zu rechnen. Die Wohnungsgesellschaft etwa soll erst Anfang 2024 ihre Arbeit aufnehmen, und auch die Lehrer müssen noch auf die versprochene Gehaltsanhebung warten.
Finanzen
Knackpunkt sind die Finanzen. Denn der Haushalt für 2023 wurde noch von der alten SPD-CDU-Regierung auf den Weg gebracht. Mit Reinhold Hilbers von der CDU war damals noch ein Verfechter der Schuldenbremse Finanzminister. Dessen Nachfolger Gerald Heere (Grüne) ist deutlich offener für mehr Ausgaben, hat in diesem Jahr aber eher geringen Spielraum - auch weil die Krisenbewältigung vorgeht. Erst nach der Steuerschätzung im Frühjahr dürfte es mehr Klarheit darüber geben, in welchem Umfang Niedersachsen künftig investieren kann.
Dass es mit dem einen oder anderen rot-grünen Projekt noch dauert, könnte auch daran liegen, dass mittlerweile kein Ministerium mehr dieselbe Führung hat wie unter SPD und CDU. Galt das anfangs noch für das Innenministerium mit Boris Pistorius und das Sozialministerium mit Daniela Behrens, führte Pistorius' Wechsel ins Bundesverteidigungsministerium zu einer Rochade: Behrens wurde Innenministerin, ihr Amt wiederum übernahm Andreas Philippi (alle SPD). Einzig Wirtschaftsminister Olaf Lies (zwischenzeitlich Umweltminister) ist nun von Beginn an Minister unter Weil.
CDU: Rot-Grün „gründlich missglückt“
Die CDU sieht den Start von Rot-Grün bereits als „gründlich missglückt“ an, wie Oppositionsführer Sebastian Lechner sagt. Er kritisiert, Rot-Grün fehle ein Grundverständnis dafür, was Niedersachsen politisch voranbringt. “Bis auf den Nachtragshaushalt Ende November gab es bisher nicht einen Gesetzentwurf von Rot-Grün. Der Nachtrag war zwar richtig, aber von einer Soforthilfe kann keine Rede sein, wenn ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine bisher noch kein Geld auf den Konten der Unternehmen angekommen ist“, sagte Lechner.
Als stärkste Oppositionspartei versucht die CDU nach ihrer erneuten Wahlniederlage, die Minister von SPD und Grünen mit einem Schattenkabinett zu stellen. Die Fachsprecher, die die Ressorts spiegeln, sollen auch dem Eindruck entgegenwirken, die CDU sei mit Lechner in der Doppelfunktion als Fraktions- und Landesvorsitzender mittlerweile eine One-Man-Show. Große Gegenentwürfe zur rot-grünen Politik wurden bisher aber nicht vorgestellt.
Interessant wird zu sehen sein, wie sich die CDU bei den von SPD und Grünen angestrebten Verfassungsänderungen verhält – etwa zur Absenkung des Wahlalters oder für eine Frauenquote im Parlament. Rot-Grün ist dabei auf Unterstützung der Opposition angewiesen, weil die Koalition alleine nicht die benötigte Zwei-Drittel-Mehrheit hat.
Isolierte AfD
Gänzlich isoliert im Landtag ist derweil die AfD, trotz deren Beteuerungen, für alle Gespräche offen zu sein. Nachdem ihre Vorgängerfraktion wegen interner Streitereien aufgelöst wurde, bemüht sich die AfD nun um Geschlossenheit. Sie setzt aber auch auf populistische Forderungen wie eine Amnestie für alle Verstöße gegen die Corona-Verordnung. Niedersachsens Verfassungsschutzpräsident Dirk Pejril hielt dem AfD-Landesverband zudem jüngst vor, sich nicht ausreichend von radikalen innerparteilichen Kräften zu distanzieren. Immer wieder sei eine Nähe zu Coronaleugnern, Querdenkern, Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern festzustellen, sagte er.
Die FDP, die bis kurz vor der Wahl auf eine Regierungsbeteiligung hoffte und dann knapp den Einzug in den Landtag verpasste, steht ihrerseits weiter vor einem umfassenden Neuaufbau. Erst Mitte März wird die komplette Führungsriege des FDP-Landesverbands neu gewählt. Von Christopher Weckwerth und Marc Niedzolka, dpa