Mord-Ermittler ziehen eine Hellseherin hinzu

Eine Hellseherin als Medium – aus „Okkultismus und Verbrechen“ von Albert Hellwig, Langenscheidt 1929.
Goslar. Am 22. August 1927 wurde am Rammelsberg die beliebte Gemeindeschwester Bewina Heder am hellichten Tage ermordet. Der Täter wurde nie gefasst. 90 Jahre später sind im Goslarer Stadtarchiv aus dem Nachlass des ehemaligen Oberbürgermeisters Friedrich Klinge Unterlagen zu den damaligen Ermittlungen aufgetaucht.
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Goslar. Am 22. August 1927 wurde am Rammelsberg die beliebte Gemeindeschwester Bewina Heder am hellichten Tage ermordet. Der Täter wurde nie gefasst. 90 Jahre später sind im Goslarer Stadtarchiv aus dem Nachlass des ehemaligen Oberbürgermeisters Friedrich Klinge Unterlagen zu den damaligen Ermittlungen aufgetaucht.
Die eigens eingesetzte Sonderkommission hatte die Stadt längst verlassen, als knapp ein Jahr nach der Tat, am 26. Juli 1928, in der GZ ein Artikel erschien: „Hellsehen im Dienste der Polizei“. Der Bericht, in dem von den sensationellen Erfolgen des Mediums Gertrud Gerberg-Wiethardt bei der Aufklärung mehrerer schwerer Verbrechen die Rede ist, weckte das Interesse der Goslarer.
Oberbürgermeister (OB) Friedrich Klinge, den der Fall nie losgelassen hatte, beriet sich mit dem Magistrat, der schließlich Kontakt mit dem Medium aufnahm. In den 1920er Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass sich die Polizei bei schwierigen Fällen der Mithilfe von Menschen mit vermeintlich übersinnlichen Fähigkeiten bediente. Es war die Zeit, in der Ouija-Bords, Gläserrücken und Séancen Hochkonjunktur hatten. Zahlreiche Hellseher wurden später als Scharlatane und Wichtigtuer enttarnt.
OB Klinge veranlasste, nachdem er den renommierten Philosophen Prof. Johannes Maria Verweyen um dessen Einschätzung gebeten und dieser ohne jeden Zweifel die übersinnlichen Fähigkeiten von Gertrud Gerberg-Wiethardt. bescheinigt hatte, die umgehende Kontaktaufnahme.
Es folgte ein längerer Schriftwechsel zwischen dem Magistrat und dem Ehemann des Mediums, der in die Ankündigung der Ankunft des Düsseldorfer Ehepaares am 18. Oktober 1928 um 14.06 Uhr am Goslarer Bahnhof mündete. Neben der Bitte um Geheimhaltung klingt der Hinweis „auf ein Erkennungszeichen können wir verzichten“ wie eine erste Arbeitsprobe zum Beweis der hellseherischen Fähigkeiten.
Nach der pünktlichen Ankunft traf man sich in der Wohnung des Senators Ehelolf in der Reußstraße 9. Was nun folgte, war eine filmreife Szene, deren wortgetreues Protokoll dank des Verwaltungsgehilfen „Ahrens II“ als Niederschriftsführer vollständig erhalten blieb. Neben dem Ehepaar Gerberg-Wiethard und dem Gastgeber waren demnach anwesend „OB Klinge, Stadtsyndikus Dr. Wandschneider, Senator Schwikkard, Bürodirektor Liphardt, Polizei Ober-Insp. Ostheeren und Kriminalsekretär Kuhlmann“.
Das elfseitige Protokoll beginnt mit den Worten: „Zur Klärung des Mordes an der Gemeindeschwester Bewina Heder hatte der Magistrat der Stadt Goslar die Ehefrau Gerber-Wieghardt aus Düsseldorf gebeten, in Goslar im Trancezustand Angaben zu machen, die geeignet seien, die Ergreifung des Mörders zu erleichtern.“
Nachdem Gerber-Wiegardt seine Ehefrau in den Trancezustand versetzte, begann sie zu sprechen:
„Ich muß hier den Weg gehen, dann etwas abbiegen ... dann sehe ich jemanden liegen.“ „Wen siehst Du da liegen?“ fragte einer der Umstehenden. „Eine Frau, hier!“ ... Sie lebt nicht mehr ...“ „Ich sehe ein Bild; es sind Bäume dort, durch die ich sehe. Aber ich sehe sie nicht allein. Ein Mann: blasses Gesicht, etwas stechende Augen, guckt so von unten herauf, ... er trägt einen dunklen Anzug, grau schwarze Joppe ... und er trägt eine Mütze.“ Die Textpassage mit der Mütze wurde nachträglich mit Rotstift markiert. Es folgt eine genaue Beschreibung des Mannes und eines Hauses mit vielen Fenstern, in das er nach der Tat gegangen sein soll. „Der mit dem gestreiften Anzug, der hat es getan. Der hat’s getan. Er ist ja nicht weit von hier. Ihr kennt ihn ja. Sucht, ich habe recht! Es kommt noch nicht morgen, aber es kommt...“ Nach diesen Worten rief Gerber-Wieghardt seine Frau nach etwa zehn Minuten in das natürliche Bewußtsein zurück.
An die Experimente im Zimmer schloss sich nach einer kurzen Pause eine Begehung des Mordgeländes an. Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Über Tappen-, Klubgarten- und Astfelder Straße, Claustorwall, Nonnenweg, Clausthaler Straße, Berg- und Bruchchaussee bis zu der Stelle, wo der Fahrweg zum Maltermeister Turm von der Bruchchaussee abzweigt.
Über die Lage der Mordstelle waren Herr und Frau Gerber-Wieghardt laut Protokoll nicht unterrichtet. „Ich muß hier eine lichte Stelle im Walde suchen... Hier ist die Stelle, ich kann hier nicht blieben, mir wird so schlecht.“ Das Erstaunen der Anwesenden lässt sich heute noch erahnen, als das Medium die Entourage zielstrebig zu der Mordstelle im Wald führte.
Nun ging es darum, den Weg zu finden, den der Täter nach der Tat gegangen war. Aus dem Protokoll: „Etwa 100 m von der Bruchchaussee nimmt sie die Spur auf, ... geht den am Waldrand führenden Hohlweg (in Richtung Bleiche), ... schließlich auf den Weg, der durch das dreieckige Gehölz führt... Sie bemerkt dabei, dass der Täter dieses Gehölz schnell durchlaufen habe... Als wir aus dem Walde kamen und auf die Rammelsbergkaserne stießen, sagte Gertrud Gerber-Wieghardt: „Hier muß ihn jemand gesehen haben“... Vor dem Eingang des Lazarettgebäudes blieb sie stehen: „Dies Gebäude habe ich gesehen. Hier ist er drin! Dies ist das Haus mit den vielen Fenstern!“ Die Ortsbegehung endete vor einer Stehbierhalle in der Fischemäkerstraße, wo sich der Täter ebenfalls aufgehalten haben soll.
Vor der Rückreise nach Düsseldorf bemerkte der Ehemann noch, dass der Ausspruch seiner Frau vor dem Gebäude mit den vielen Fenstern so aufzufassen sei, dass sie ihn nicht jetzt, sondern nach der Mordtat in diesem Gebäude gesehen habe.
Eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2004 kommt zu dem Ergebnis, dass zahlreiche sogenannte Medien zwischen 1911 und 1930 im Dienste der Polizei irgendwann des Betrugs überführt wurden. Gerber-Wiegardt konnte man diesbezüglich nie etwas nachweisen.
Von den ungewöhnlichen Versuchen, den Fall aufzuklären, erfuhr die Öffentlichkeit nichts. Wieder kehrte Ruhe ein, bis ein Roman alles erneut aufrollte: Gedruckt 1934 erschien im Frühjahr darauf das Buch „Steine in Gottes Garten“, der damals nicht unbekannten Schriftstellerin Gertrud Busch. Das Buch liest sich wie ein Plädoyer für die Unschuld des in Verruf geratenen Pastors. Fakten, die das rätselhafte Verschwinden des Buches aus den Goslarer Bücherregalen erklären könnten, sucht man allerdings vergebens. Im Roman ist der Täter ein herumstrolchender Vagabund, der seinem Leben ein Ende setzt, indem er irgendwo bei Goslar seine Taschen mit Steinen füllt und in einem Gewässer verschwindet, wo er nie gefunden wird.
Neben dem Schriftwechsel zwischen dem Magistrat und den Eheleuten Gerber-Wieghardt und den mehrfach aktualisierten Ermittlungsergebnissen der Landeskriminalpolizei Hannover findet sich auch ein persönlicher Brief von Pastor Hauk an OB Klinge in den Unterlagen. Das auf den 11. Oktober 1927 datierte Schreiben klingt wie eine verbitterte Abrechnung des Pastors, der in Goslar offenbar im Zusammenhang mit seinem Amt auf „Widerstände schlimmster Art“ stieß, durch die sein „Wirken immer wieder gelähmt“ wurde
Ferner ging aus dem Brief hervor, dass Klinge persönlich den Pastor sechs Jahre zuvor nach Goslar holte und ihn in den letzten Tagen seiner Goslarer Amtszeit fallen ließ. Deutlich ist der Vorwurf heraus zu lesen, dass alle Versuche Hauks, mit Klinge in Kontakt zu treten, von diesem abgelehnt wurden. Was war das „Anliegen von ganz besonderer Stärke“ das den Pfarrer bewog, das persönliche Gespräch mit Klinge zu suchen?
Weit merkwürdiger ist jedoch die Tatsache, dass der Brief dem Konvolut mit dem Titel „Mordsache Bewina Heder“ beigefügt wurde. Die einzige Verbindung zu dem Fall ist ein Hinweis, in dem sich der Pfarrer für eine Liste mit über 1000 Unterschriften bedankt, die „ein lindernder Trost war, gegenüber der furchtbaren Last des Leides und der Bitterkeit, die sich mit jenen Wochen auf mein Leben gelegt hat“.
Hauk verließ Goslar im Herbst 1927 und wurde später bekannt als Gauschulungsleiter der den Nationalsozialisten nahestehenden „Glaubensbewegung Deutscher Christen“ an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Wer auch immer die Schriftstücke zusammengestellt hat, der unheilvolle Zusammenhang wurde bewusst oder unbewusst wieder hergestellt.

Ein aus den Bücherregalen verschwundener Roman von 1934/35 handelt von dem Rammelsberg-Mord.

Grab von Bewina Heder auf dem Goslarer Friedhof an der Hildesheimer Straße.

Protokoll der Séance vom 18. Oktober 1928, die die Ermittler auf die Spur des Mörders führen sollte. Erst vor zwei Jahren wurde es im Nachlass von OB Klinge entdeckt.