Autos, die auf der Straße tanzen können

Die chinesische Autoindustrie überrascht mit tanzenden Autos und großen Bildschirmen. Die deutschen Hersteller geraten immer mehr ins Hintertreffen. Foto: picture alliance/dpa
In seiner Kolumne „Nachgedacht“ analysiert GZ-Chefredakteur Jörg Kleine in dieser Woche die Trends einer Automesse in China: Touchscreens und Entertainment stehen dort im Mittelpunkt. Die deutschen Hersteller sind zurückgefallen.
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Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind, hieß es über Jahrzehnte. Samstags war vor der Garage Waschtag mit Politur, damit dann für den Sonntagsausflug mit der Familie alles fein war. Und bitte keine Chips oder Schokolade auf den Rücksitzen, hieß die Ansage für die Kinder.
Im Ausland galten deutsche Autos als wahre Wunderwerke von Technik und Qualität. Angesichts der aktuellen Produktionszahlen von Volkswagen und weiteren deutschen Automobilbauern kommt bei vielen Konsumenten allerdings Wehmut auf, in den Vorstandsetagen und bei den Beschäftigten in Deutschlands bisheriger Schlüsselindustrie eher die Panik.
Chinesen, die in den 1980er Jahren einen VW Santana fahren durften, waren wie Könige in Stadt und Land. Heute steht China mit großem Abstand oben in der weltweiten Rangliste der Produktionsländer: Mehr als 30 Millionen Kraftfahrzeuge verließen 2023 die chinesischen Fabriken, dahinter folgten die USA mit 10,6 Millionen und Japan mit knapp neun Millionen Autos. Mit 4,1 Millionen rangierte Deutschland auf Platz sechs, selbst Indien produzierte mit fast sechs Millionen Autos deutlich mehr.
Vor allem bei E-Autos liegen die Chinesen klar vorne und drängen mit günstigeren Fahrzeugen auf die Märkte in Europa. In Großstädten wie Peking sollen Verbrenner alsbald komplett aus dem Verkehr gezogen werden. Ins Hintertreffen geraten deutsche Hersteller auf dem weltgrößten Automobilmarkt nicht nur, weil der chinesische Staat seit Jahren milliardenschwere Subventionen fließen lässt, sondern auch, weil deutsche Autokonzerne die Entwicklung dort vielfach verschlafen haben.
Ob die Entwicklung in China mit deutschem oder europäischem Verständnis von Auto inzwischen überhaupt noch kompatibel ist, bleibt dahingestellt. Nachrichten von einer jüngsten Automobilmesse in China brachten jedenfalls so manchen ins Grübeln. Da stehen glanzpolierte schnittige Fahrzeuge von chinesischen Herstellern wie BYD und Co. im Rampenlicht, doch geht es vielen Besuchern dort überhaupt nicht mehr um Fahrleistungen, Kurvenlage, Lenkverhalten oder Wintertauglichkeit. Vor allem interessiert chinesische Autokäufern offenbar die Größe des Touchscreens, wie eine „Auto-Influencerin“ bei der Messe erklärte.
Angesichts des Dauerstaus in Peking, wo selbst Fußgänger mit Gehhilfen oder Rollator schneller unterwegs sind als Autofahrer, mag das verständlich sein: Auf Knopfdruck aus dem Wagenhimmel ausfahrbare TV-Bildschirme, in den Türen und Konsolen eine Klangmaschine wie beim Popkonzert, vorne am Armaturenbrett ein großer Bedienungsmonitor, auf dem selbst Kurzsichtige nach Brillenverlust noch schnell ein Liefermenü mit GPS-Standortbestimmung bestellen können. Fehlen nur noch ausfahrbares WC und Waschbecken im Heck, dann muss der Autosteher im Stau sein elektronisches Vehikel eigentlich gar nicht mehr verlassen.
Der neueste Schrei ist ein E-Sportfahrzeug von Xiaomi, denn auch dieser chinesische Smartphone-Hersteller tummelt sich inzwischen unter den Autoproduzenten. Die Karosse kann sich nicht nur auf der Stelle drehen, sondern sogar im rockigen Takt der Klangmaschine auf der Straße tanzen – und schüttelt dabei strahlende Probefahrer über hüpfende Stoßdämpfern kräftig durch. Ach ja, fahren kann man mit dieser Jukebox angeblich auch.
Ob VW, BMW, Audi oder Mercedes künftig ebenfalls rollende Bildschirme herstellen, die auf der Straße tanzen, vermag ich mir indes nicht vorzustellen.
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