Hahnenklee zur Nazi-Zeit: Spurensuche recherchiert für Vortrag

Eine Postkarte als Gruß aus dem Harz: Neben der Hermann-Göring-Straße gibt es in der Nazi-Zeit auch noch eine Adolf-Hitler-Straße in Hahnenklee. Fotos: Spurensuche
Hahnenklee. Ende April 1945 macht der Tod von 18 lettischen Säuglingen und Kleinkindern überregionale Schlagzeilen. Sie sterben im Oberharz unter nicht vollends geklärten Umständen im Mütterheim „Victoria“ der ehemaligen nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Für den Verein Spurensuche Harzregion haben Dr. Friedhart Knolle, Petra Kubina und Frank Jacobs diesen speziellen Fall und weitere Zeugnisse aus der Nazi-Vergangenheit des Kurorts untersucht und hinterfragt.
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Über ihre Ergebnisse berichten sie am morgigen Himmelfahrtstag Mitgliedern des Berliner Motorradclubs „Friedrich Angels“, der sich unter anderem für Gedenkorte vergessener Opfergruppen des Nazi-Regimes interessiert und sich gegen jede Form von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit engagiert. „Wir wollen nicht nur unsere Helme spazieren fahren“, heißt es in einer Mitteilung. Ihre jährliche „Himmelfahrtsausfahrt“ führt 2019 nach Hahnenklee-Bockswiese, wo sie insbesondere die Geschichte des „Lebensborns“ erkunden wollen.
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Die Spurensuche liefert vorab folgende Resultate: Nach Machtübernahme durch die NSDAP zieht auch im Kurort Bockswiese-Hahnenklee Nazi-Symbolik ein. Adolf-Hitler-Straße (heute Rathausstraße) und Hermann-Göring-Straße zeugen davon. Im Juni 1935 beschließt der Gemeinderat, die Ortsbezeichnung umzudrehen. Es wohnen inzwischen mehr Menschen in Hahnenklee als in Bockswiese. Im Zweiten Weltkrieg unterhält das Forstamt Lautenthal eine seiner Baracken für Zwangsarbeiter in Hahnenklee. Quellen berichten von mehr als 40sowjetischen Kriegsgefangenen.
Während der späten Kriegsjahre werden Schwangere aus den vom Bombenkrieg bedrohten Großstädten zu einer weitgehend ungestörten Niederkunft in Hahnenkleer Hotels verbracht, die zu Entbindungsheimen umgerüstet sind. Hahnenklee erreicht Rekordzahlen bei den Geburten. Am Ortseingang verkündet ein Schild: „Kurort für Mutter und Kind.“ In den von der NS-Organisation „Hilfswerk Mutter und Kind“ beschlagnahmten Häusern werden mehr als 3600 Kinder geboren.
Als Entbindungsheime dienen das Kurhaus Bockswiese, das Haus Maria und das Hotel Waldgarten. Erholungsheime sind das Hotel Niedersachsen, Hotel Deutsches Haus und die Rische. Der Hahnenkleer Hof ist ein Schwestern-Erholungsheim. In einem separaten Teil des Waldgartens befindet sich eine Geburtsstation des Lebenborns, der berüchtigten SS-Einrichtung zur „Züchtung reinrassiger Arier“, wie es in einer Quelle heißt.
Zum Kriegsende füllt sich der Ort mit Flüchtlingen überwiegend aus ostdeutschen Gebieten. US-Pastor Ross Hidy und – 2016 im Alter – Marija Fine als frühere Betroffene halten Schicksale fest. Fine flieht mit einer Gruppe von 92 Kindern aus einem Waisenhaus in Riga und kommt im April 1945 in Hahnenklee an. Für alle werden Adoptiveltern gesucht. In Fines Papieren wechselt die Religionszugehörigkeit zweimal, ohne dass sie umgetauft wird. Sie vermutet, dass die Adoption leichter gemacht werden soll.
Hidy nimmt 1949 Zwillinge in seine Obhut. Er vermittelt insgesamt 62 Kinder in die USA vornehmlich in lutheranische Familien. Er dokumentiert auch die Geschichte der toten Kinder. Sie sterben im Mütterheim Victoria. Den Überlieferungen nach sollen Pflegerinnen einen regen Schwarzhandel mit Lebensmitteln getrieben haben. Einige von ihnen haben selbst Kinder – sie weisen offenbar einen guten Gesundheitszustand auf. Die Spurensuche vermutet, dass den noch von der NS-Ideologie geprägten deutschen Pflegekräften das Leben „rassisch minderwertiger Letten“ weniger wert als der Schwarzmarktwert der Nahrungsmittel gewesen sein könnte. Im Beerdigungsregister des Kurortes werden zahlreiche Gräber lettischer Waisenkinder aufgeführt.
Die Gräber auf dem Waldfriedhof sind verschwunden. Die Spurensuche empfiehlt deshalb, dort eine Gedenktafel anzubringen.