Literatur kann eine Strafe sein, aber es geht auch anders

Hartmut Weber und Franziska Linke (2.v.r.) sowie Jugendrichterin Cabrita Deutschmann (r.) mit Gastautorin Aygen-Sibel Çelik im Gerichtssaal, der zu einer Lesestube geworden ist. Foto: Klengel
Es war eine besondere Lesung, zu der Aygen-Sibel Çelik im Rahmen der Jugendbuchwoche ans Goslarer Amtsgericht gekommen war.Sie las dort vor Jugendlichen, die mitunter dazu verdonnert worden waren, zuzuhören.
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Bad Harzburg. „In einem Gerichtssaal habe ich noch nie gelesen“, stellte die renommierte Jugendbuchautorin Aygen-Sibel Çelik fest und nahm dort Platz, wo normalerweise Zeugen Rede und Antwort stehen. Ihre jungen Zuhörer und Zuhörerinnen, die bisher am Tisch für Angeklagte saßen, besetzten an diesem Tag die Zuschauerplätze. Nur wenige der 18 von der Jugendhilfe im Strafverfahren (JuHiS) betreuten Heranwachsenden waren zuvor schon einmal auf einer Autorenlesung gewesen.
Gebanntes Zuhören
Doch der 55-jährigen Autorin gelang es mit ihrer zugewandten und einnehmenden Art schnell, das Eis zu brechen. Die mit vielen Preisen ausgezeichnete Deutsch-Türkin las aus ihrem ersten Roman „Seidenhaar“, in dem es um die Facetten des muslimischen Glaubens und die damit zusammenhängenden Vorurteile geht. Bereits nach wenigen Worten war es mucksmäuschenstill und die Jugendlichen hörten gebannt zu.
Es war die JuHiS, vertreten durch Hartmut Weber und Franziska Linke, die zusammen mit Jugendrichterin Cabrita Deutschmann diese ungewöhnliche Lesung möglich gemacht hatten. Dabei schloss sich Weber der Jugendbuchwoche des Vereines Harzburger Aktion an. Seit 1969 holt der Verein Jugendbuch-Autoren in die Region, die ihre Werke in Schulen und Kitas vorstellen.
Zum Lesen verurteilt
Nun traf die Jugendbuchwoche im Goslarer Amtsgericht auf das „Projekt Lesen“. Dieses Projekt wurde 2012 von Urte Schwerdtner, damals noch Jugendrichterin, und Hartmut Weber für den Amtsgerichtsbezirk Goslar ins Leben gerufen. Das Projekt richtet sich an Jugendliche und Heranwachsende, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Allzu oft sind es familiäre und persönliche Probleme, welche die jungen Straftäter und Täterinnen auf die falsche Spur bringen. Über die fiktiven Figuren in Büchern könnten viele ihre Probleme eher in Worte fassen, so Franziska Linke.
Lesen als Strafe? Irgendwie schon. Im Jugendstrafrecht steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund. So kann ein Jugendgerichtsurteil dergestalt ausfallen, dass ein zu der begangenen Tat passendes Buch ausgesucht wird, welches innerhalb von vier Wochen gelesen werden muss. Dann folgt ein Gespräch, durch welches der junge Straftäter im Idealfall seine eigene Lebenssituation reflektiert. Eine Leseweigerung könnte zu Beugearrest führen.
Der war an diesem Tag nicht notwendig. Obwohl nicht alle Zuhörer freiwillig in den Gerichtssaal gekommen waren, manche waren auch vom Jugendgericht dazu verdonnert worden, so wuchs doch das Interesse an Çeliks Geschichte der beiden türkischen Mädchen Sinem und Canan spürbar. Die freche Sinem wetterte gegen islamische Traditionen, während Canan mit Kopftuch in die Schule kommt. Um Canan besser zu verstehen, beschließt Sinem selbst ein Tuch zu tragen und erlebt, wie sie plötzlich abfällig behandelt wird.
Ein Buch für jeden als Geschenk
„Was glaubt ihr? Wird sie das Kopftuch weiter tragen?“, fragt Çelik, was zu einer munteren Diskussion führt. „Wie erfahre ich nun, wie die Geschichte ausgeht?“, fragte einer der jungen Zuhörer, als Çelik ihre Lesung beendete. Weder er noch seine Freunde mussten den Roman kaufen. An diesem Tag bekamen sie „Seidenhaar“ von der Harzburger Aktion geschenkt. Die meisten von ihnen stellten sich am Ende geduldig in die Schlange derer, die sich ihr Buch von Aygen-Sibel Çelik signieren ließen. Es zu lesen, werden sie wohl nicht als Strafe empfinden.