Endlich können auch Harzreisende ihr blaues Wunder erleben – im erfreulichen Sinne. Denn am Mittwochabend wurde die Oker-Brücke vorm Ortseingang von Vienenburg feierlich freigegeben, deren stählerne Konstruktion nicht nur farblich an den stählernen Giganten in Dresden erinnert – das „Blaue Wunder“.
Der stählerne Gigant von Dresden
Seit 1893 verbindet die Brücke die beiden Dresdner Wohnviertel Loschwitz und Blasewitz als technisches Meisterwerk. Als „versteifte Hängebrücke“ kam sie schon vor mehr als 130 Jahren ohne Brückenpfeiler aus und war damit eine der ersten ihrer Art in ganz Europa.
Nun ist die Oker nicht die Elbe, und die rund 200 Tonnen Stahl vor Vienenburg sind nur ein Bruchteil der rund 3500 Tonnen in Dresden. Aber die Farbe Blau gereicht beiden gemeinsam zur Zierde – in Dresden etwas heller ins Türkise hinein, in Vienenburg etwas dunkler ins Gräuliche.
Auch mit der jahrelangen Sanierung steht das blaue Wunder von Vienenburg dem großen Vorbild in Dresden kaum nach.
Acht Jahre mit Hindernissen und Sperrung
Schon 2022 begann in Dresden die Sanierung des Mittelstücks mit Teilsperrung, ab Juli 2025 soll die Loschwitzer Brücke für weitere fünf Jahre saniert werden. Also insgesamt acht lange Jahre, die sich auch Vienenburger und Goslarer mit Verkehrsbeschränkungen und – seit Herbst 2022 – mit Vollsperrung herumplagen mussten. Endlich ist das Kapitel an der Oker nunmehr abgeschlossen, wo Autofahrer, Radler und Passanten nun ihr blaues Wunder erleben können.
Ist Blau die Farbe der Täuschung?
Woher diese Redewendung stammt, ist hingegen für viele Deutungen und Interpretationen offen. Die stählerne Brücke in Dresden scheint jedenfalls nicht der Ursprung zu sein. Zumal die Redewendung nicht nur Überraschendes in sich trägt, sondern auch Bedrohliches. „Geolino“, das innovative Wissensmagazin für Kinder ab neun Jahren, erklärt das beispielsweise so: „Farben haben in der Sprache bestimmte Bedeutungen. Rot ist zum Beispiel die Farbe der Liebe – und Blau war früher einmal die Farbe der Täuschung.“ So können Menschen laut Wikipedia schon seit dem frühen 16. Jahrhundert verbal ihr blaues Wunder erleben. Etwa, weil jemand das Blaue vom Himmel herunter lügt.
Andere verweisen auf das alte Handwerk der Färber, deren Stoffe nach Reaktionen mit der Luft plötzlich einen bläulichen Ton annahmen – und somit für eine böse Überraschung sorgten. An blauen Wundern fehlt es aber auch in weiteren Zusammenhängen nicht: In Leipzig hieß eine frühere Fußgängerbrücke so, auch die Brücke von Wolgast zur Ostsee-Insel Usedom trägt diesen Titel, ebenso ein Renntransporter von Mercedes oder ein acht Meter langer Einbaum zur „Heimholung des Joseph Beuys“, die der Künstler Anatol Herzfeld 1973 auf dem Rhein bei Düsseldorf zelebrierte. Er wollte damit auf die Entlassung von Beuys, dem Goslarer Kaiserringträger, aus der Kunstakademie ein Jahr zuvor protestieren.
„Blaues Buch“ und politisches Theater
„Das Blaue Wunder“ gibt es derweil auch als anspruchsvolles Theaterstück von Thomas Freyer und Ulf Schmidt. Die Groteske thematisiert die Gedankenwelt der Neuen Rechten in Deutschland und birgt mithin Überraschendes wie Bedrohliches: Als Stoff des Theaterstücks dienen Zitate von AfD-Politikern wie Alexander Gauland und Björn Höcke. In der Inszenierung brechen Dresdner Bürger mit einem Dampfschiff auf zu neuen Ufern, ein „Blaues Buch“ weist ihnen dabei den Weg und gibt auf alle Fragen eine passende Antwort. Politischer Kurs: Es muss sich was ändern, so geht es nicht mehr weiter.
Um jetzt gedanklich eine Brücke zu bauen: Lassen Sie sich nicht von mittelalterlichen Gesinnungen täuschen, wenn Sie das blaue Wunder von Vienenburg sehen.
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