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Als Pilz oder Regenwolke dem Alltag entkommen

Cassandra Vollmerings Kostüme sind häufig aus der Natur inspiriert, so wie der Pilz.  Fotos: Cassie Photographie (5) /Paetzold-Belz (1)

Cassandra Vollmerings Kostüme sind häufig aus der Natur inspiriert, so wie der Pilz. Fotos: Cassie Photographie (5) /Paetzold-Belz (1)

Knapp 70 Quadratmeter, acht Haustiere und eine Frau mit 140 Leben – als Regenwolke, als Gargoyle, als „Juicy Fruit“, als Pilz oder als Marienkäfer. Dazu eine Leidenschaft: Cosplay. Genauer gesagt, das Kreieren aufwendigster Kostüme, um in die Rollen von Comicfiguren zu schlüpfen, oder eben in die von Naturphänomenen, Tieren oder Fantasiewesen. Rund 140 davon hat Cassandra Vollmering bereits geschneidert. Wobei „geschneidert“ eigentlich eine Untertreibung ist, denn die 35-Jährige näht, schmilzt, klebt und malt oft monatelang und, wenn möglich, täglich an ihren Werken.

Samstag, 28.12.2019, 09:00 Uhr

In ihrer Wohnung in ihrem Elternhaus in Bad Harzburg, in der Cassandra Vollmering mit ihren sechs Schlangen, mit Katze Miezi und Hund Lilly lebt, erdenkt, plant und näht sie die Roben. Später präsentiert sie sie unter anderem in Sozialen Netzwerken, zum Beispiel bei Instagram: „Nur zum Spaß, Geld verdiene ich damit nicht.“ Das bringt die gelernte Malerin und Lackiererin durch ihren Job als Reinigungskraft in einer Langelsheimer Firma ins Haus.

{picture1s} Der Cosplay-Trend kommt aus dem Land der aufgehenden Sonne und ist fester Bestandteil der Manga- und Anime-Szene, das heißt des Lebensstils, der sich rund um die japanischen Comics, TV-Serien und Videospiele dreht. Für viele Fans gehört es dabei fest dazu, regelmäßig in die häufig bunten und ausgefallenen und originalgetreuen Kostüme ihrer Helden zu schlüpfen. So hat es 2007 auch bei Cassandra angefangen. „Mein erstes Kostüm war Able Nightroad aus der Anime-Serie Trinity Blood“, erzählt sie. Sie trug es auf der NiCon, einer Anime- und Manga-Messe in Hannover. „Inzwischen habe ich mich aber mehr auf Eigenkreationen spezialisiert.“

Mit ihrer „Dämonenkönigin“ im Jahr 2010 machte sie den ersten Schritt dazu. Inzwischen hat sie für ihre einfallsreichen Kostüme, die häufig von der Natur inspiriert sind, sogar Preise gewonnen. „Manchmal ist es ganz seltsam, wie ich auf die Ideen dazu komme“, erzählt Cassandra. „Für meinen Pilz zum Beispiel: Eigentlich mag ich Pilze überhaupt nicht. Aber ich habe in einem Geschäft so einen Plüsch-Pilz gesehen, den ich süß fand.“

Von niedlichen Plüschfiguren mögen die Gewänder mitunter inspiriert sein, sehen in der Regel aber ganz und gar nicht danach aus. „Zurzeit habe ich eine besondere Vorliebe für Horror-Motive“, sagt die 35-Jährige. Ihr Zombie-Butler-Kostüm, das sie mit einem düsteren Make-up trägt, ist in ihrem Wohnzimmer ausgestellt, gleich vor dem Terrarium der beiden großen Würgeschlagen Prinz und Diva. Als „niedlich“ würde es wohl kaum jemand bezeichnen – weder das Kostüm, noch die Schlangen. Auch von Karneval will die 35-jährige Hobby-Künstlerin deswegen, wie so viele Cosplayer, nichts hören. „Mit Fasching hat das nichts zu tun“, betont sie. Vielmehr mit unglaublich detailreichen, ausladenden Gewändern mit dazugehörigen Accessoires, die mitunter an Roben aus Barock oder Rokoko erinnern. „Ich habe mal eine der Kopfbedeckungen gewogen: Sie war vier Kilo schwer.“ Wie lange es dauert, die Kleider anzuziehen? „Viel zu lange“, sagt Cassandra lachend. „In manche Kostüme komme ich gar nicht alleine rein.“

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Von der ersten Eingebung bis zum fertigen Kostüm vergehen oft Monate, manchmal sogar ein Jahr. „An meiner Seehexe arbeite ich sogar bestimmt schon zwei Jahre “, erzählt sie. „ Nachdem mir das kleine Aquarium, das ich auf einem Stab montiert hatte, abgebrochen ist, war ich irgendwie gefrustet und hab die Motivation verloren.“ Alleine Hunderte kleiner Saugnäpfe für Dutzende Fangarme zahlloser kleinerer und größerer Kraken, die das Gewand verzieren, formt Cassandra in mühevoller Kleinarbeit, schmilzt thermoplastische Kunststoffplatten, sogenannten „Worbla“, und modelliert daraus die Details, die später mit Acrylfarbe bemalt werden.

Meine Seehexe“, „mein Butler“ – Wenn man die 35-Jährige so liebevoll von ihren Kreationen sprechen hört, mag man kaum glauben, dass sie den Großteil davon inzwischen auf dem Dachboden lagert und nach eigener Aussage wohl nie wieder tragen wird. Verkaufen kommt trotzdem nicht infrage: „Nein, dafür hänge ich zu sehr daran.“ Stetig kommen neue hinzu, für Besuche auf Conventions und Messen.

Und nicht nur die Kostüme, auch Kisten um Kisten mit Material dafür wollen in der Wohnung untergebracht sein. Geschätzte 200 Euro im Monat gibt Vollmering für Worbla, Stoffe, Farben, Pailletten und vieles mehr aus. „Das Hobby ist nicht ganz günstig“, sagt sie. Und im beschaulichen Landkreis Goslar ist es gar nicht so einfach, alles zu bekommen, was man braucht. „Da muss ich schon einiges im Internet bestellen. Aber ich habe auch so meine Läden in der Region, in denen ich Material kaufen gehen.“ Die Kosten sind neben dem Herzblut, das die 35-Jährige in die Werke steckt, einer der Gründe, warum sie sie nicht verkaufen mag. „Zu wenig Menschen sind bereit, das zu bezahlen, was die Kostüme wert sind“, meint sie. „Alleine die Materialkosten liegen meist schon bei etwa 1000 Euro. 2000 Euro als Verkaufspreis müsste ich schon rechnen.“

Professionelles Cosplay-Design als Beruf also? Das kann Cassandra Vollmering sich nicht vorstellen. „Ich habe Fachabitur in Kunst gemacht, dann hier aber keine Arbeit in der Richtung gefunden. Um Geld mit meinen Kostümen zu verdienen, müsste ich wegziehen. Ich hänge aber sehr an meiner Familie.“ Schließlich wares ihre Mutter, die Cassandra das Nähen lehrte – „Sie ist Schneiderin“ ¨– und die Oma, die als fleißiges Bastelvorbild diente. „Außerdem hätte ich Angst, dass es mir mit dem Druck, Geld zu verdienen, keinen Spaß mehr macht. Immerhin liebe ich die Arbeit an den Kostümen, weil ich dabei entspannen und dem Alltag entkommen kann.“

{picture3s} Und natürlich hat das Leben in der Provinz noch mehr Gutes. Denn neben der Cosplay-Community im Internet und Freunden und Bekannten, die sie auf Messen trifft, hat Cassandra auch außerhalb der Cosplay-Szene eine Gemeinschaft gefunden, in der ihre Kostüme zum Einsatz kommen – in Wolfshagen. „Neuerdings mache ich bei der Hexenbrut mit. Dazu bin ichüber einen Freund gekommen. Die Hexen waren begeistert von meinen Sachen,“ freut sie sich. „Jetztmuss ich mir ein Kostüm dafür machen, vielleicht einen Lava-Dämon.“

Gut vernetzt also, in der Region verwurzelt, umringt von Familie, Freunden und Haustieren – da zieht es Cassandra eben nicht in die Ferne. Und beiso vielen Leben – als Seehexe, Lava-Dämon, Pilz, Zombie-Butler oder Regenwolke – kann es ja eigentlich sowieso nicht langweilig werden, egal wo. „Mit den Kostümen kann ich meine Persönlichkeit ausdrücken“, sagt die 35-Jährige. „Und ich bin eben ein bisschen verrückt.“

Will man sich von dieser Kreatur bedienen lassen? Der Zombie-Butler in voller Größe.

Will man sich von dieser Kreatur bedienen lassen? Der Zombie-Butler in voller Größe.

Von einem Kostüm, das sie bei einem anderen Cosplayer sah, inspiriert und passend zum Harz: Die Regenwolke.

Von einem Kostüm, das sie bei einem anderen Cosplayer sah, inspiriert und passend zum Harz: Die Regenwolke.

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