DDR-Flucht im Harz: Unter Todesangst durch den Minenstreifen

Heute Freilandmuseum, früher Todesstreifen: Die innerdeutsche Grenze durchzieht zwischen 1949 und 1989 auch den Harz, hier zu sehen: die Überbleibsel der Grenzbefestigung bei Sorge. Foto: Matthias Bein/dpa
Fluchtgeschichten aus der Zeit der deutsch-deutschen Teilung gibt es viele. Doch nicht alle nahmen auch ein glückliches Ende. Der ehemalige Bundesgrenzschützer Lothar Engler berichtete jetzt unter anderem über das Schicksal von Bernd Schilk.
Bad Harzburg. Bernd Schilk und sein Kumpel Dieter Massareck zittern vor Angst. Doch gleichzeitig sind sie fest entschlossen. Vor ihnen, in der Dunkelheit und in dichten Nebel gehüllt, verläuft die schwer bewachte Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Die wollen die beiden jungen Ostdeutschen an jenem Abend des 11. Oktober 1962 überqueren. Sie haben genug vom Eingesperrtsein. Sie wollen die Freiheit.
Ihre Geschichte ist eine von vielen, die sich während der Zeit der deutschen Teilung zwischen 1949 und 1989 ereignete. Doch nur wenige dieser Geschichten gingen gut aus. Fünf davon erzählte jetzt der ehemalige Bundesgrenzschützer und Mitbegründer des Grenzerkreises Abbenrode, Lothar Engler, vor gut 50 Zuhörern im Bad Harzburger Mehrgenerationenhaus. Das unbefugte Verlassen der DDR galt nämlich als „Republikflucht“ und stand unter Strafe. Wer den Versuch wagte und auf frischer Tat ertappt wurde, musste damit rechnen, erschossen zu werden.
Druck auf Angehörige
Das wissen auch Schilk und Massareck, als sie an jenem Herbstabend im Gras südlich von Abbenrode liegen und auf den Grenzzaun schauen. Den Entschluss, zu fliehen, hatte Schilk schon lange vorher gefasst. Gemeinsam mit seiner Mutter hatte er im Zweiten Weltkrieg seiner Heimat Schlesien den Rücken kehren und seinen Vater zurücklassen müssen, der Soldat war und kämpfen musste.
Die Grenzbefestigung in den 1960er Jahren bei Abbenrode: Ein Doppelzaun umschließt einen Minenstreifen. Foto: Archiv Engler
Für Schilk war klar, dass er selbst nicht auf Menschen schießen wollen würde, als er und seine Mutter sich 1952 im damals ostdeutschen Abbenrode niederließen. Erst recht nicht auf andere Deutsche. Sollte er einen Einberufungsbefehl in die Nationale Volksarmee der DDR erhalten, werde er das Land verlassen – das stand für ihn fest. Tatsächlich kommt jener Befehl, gleich nach Schilks 18. Geburtstag, und damit auch der Moment der Flucht.
Die war damals nicht nur ein persönliches Wagnis. Auch für Verwandte, die in der DDR zurückgelassen wurden, konnte sie empfindliche Folgen haben. Diese wurden mit teils perfiden Methoden verhört, bedroht oder ihre Wohnungen wurden durchsucht. In vielen Fällen wurden die Angehörigen gezwungen, Druck auf den Geflohenen auszuüben. Die Kinder wurden benutzt, Krankheiten vorgetäuscht – alles nur, um die Sehnsucht nach Hause zu wecken und die Geflohenen dazu zu bewegen, zurückzukehren. Es gab Fälle, da klappte das auch, weiß Lothar Engler. Etwa den von Georg Lichters, der am 18. August 1983 unterhalb des Eckereinlaufs im Harz in den Westen floh. Der kehrte zurück, nachdem man ihn emotional weichgeklopft hatte.
Durch den Zaun ins Minenfeld
Schilk kann das 1962 alles nicht ahnen, es hätte ihn wohl aber auch nicht aufgehalten. Am Abend der Flucht trinkt er sich mit seinem Kumpel im Abbenröder Gasthaus „Zur Linde“ Mut an. Die beiden Männer sind so nervös, dass sie vergessen, zu bezahlen.
Neben dem Kolonnenweg am nördlichen Rand des Schimmerwalds schleichen sie sich an die Grenze heran. Sie wissen: Jeder falsche Schritt könnte ihr letzter sein. Urplötzlich sehen sie vor sich zwei Grenzsoldaten im Gras liegen. Schilk und sein Kumpel halten die Luft an. Beide bleiben regungslos liegen und warten, was passiert. Erst Minuten später stellen sie fest, dass es sich in Wirklichkeit nicht um Personen, sondern um zwei Walzen handelt, die da abgelegt wurden. Einmal tief durchatmen.
Hin und wieder wollen Menschen, ob zuvor geflohen oder nicht, auch in die DDR. So wie dieser Mann im Jahr 1965 zwischen Braunlage und Elend, fotografiert von einem westdeutschen Grenzschützer. Foto: Archiv Engler
Die beiden jungen Männer pirschen sich an den Doppelzaun heran. In den 1960er-Jahren ist der Grenzstreifen zwar noch lange nicht so festungsähnlich ausgebaut wie der „Todesstreifen“ der späten 80er-Jahre. Weniger gefährlich ist er dadurch aber nicht, denn auch damals schon patrouillieren dort nicht nur Grenzer mit Maschinengewehren. Zwischen dem mit Stacheldraht versehenen Doppelzaun liegen auch Minen.
Vom Osten in den Westen und zurück
Aus Beobachtungen weiß Schilk jedoch: An den Stellen, an denen Wild die Grenze quert und Minen auslöst, legt die DDR-Armee keine neuen aus. An einer solchen Stelle, an der der Boden leicht ausgebeult ist, krabbeln die beiden jungen Männer unter dem Zaun hindurch. Beide bleiben am Draht hängen, machen einander wieder los. Auf der anderen Seite angekommen, rennen die beiden um ihr Leben. Dann ist es geschafft. Schilk und Massareck sind im Westen!
Ihre Flucht ist nicht nur gut ausgegangen, sondern verlief auch noch verhältnismäßig reibungslos. Anders als beispielsweise bei Marco Schlemm und Hans-Georg Kruse, von denen Engler in seinem Vortrag berichtete. Schlemm floh am 23. Oktober 1983 in der Nähe von Hohegeiß. Der damals 19-Jährige wusste, er muss zwei Zäune überwinden. Letztlich aber wurden es mehr. Ohne es zu wissen, hatte er sich einen Bereich für seine Flucht ausgesucht, in dem die Grenze einen Knick machte. Schlemm kletterte also in den Westen, dann wieder in den Osten und kurz darauf wieder in den Westen. Dort angekommen sah er als Erstes einen Mann, der einen Lada fuhr, dachte, er sei noch in der DDR, und wollte sich stellen.
Mit der Waffe im Anschlag
Hans-Georg Kruse wiederum gelang seine Flucht nur deshalb, weil ihm mit Peter Puhle ein mutiger Bundesgrenzschützer zu Hilfe kam. Am 13. November 1973 führte er, bewacht von DDR-Soldaten, mit einer Planierraupe Erdarbeiten auf dem Grenzstreifen nahe dem Kiesteich bei Wiedelah durch. In einem günstigen Moment täuschte Kruse ein Problem mit dem Fahrzeug vor, gab vor, es beheben zu wollen, krabbelte unter der Raupe hindurch und war im Westen. Noch bevor die DDR-Grenzer schießen konnten, hatte Peter Puhle seine Waffe gezogen und ermöglichte die Flucht.
Diese nachgestellte Szene zeigt die spektakuläre Flucht von Hans-Georg Kruse am 13. November 1973. Foto: Archiv Engler
Etliche andere hatten weniger Glück. An der innerdeutschen Grenze starben einer Studie der Freien Universität Berlin zufolge während der deutsch-deutschen Teilung mindestens 327 Menschen. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein. Auch im Raum Bad Harzburg gab es Grenztote. Über deren Schicksal möchte Lothar Engler im kommenden Jahr berichten. Geschichten, die zeigen: Der Weg in die Freiheit war für viele ein Risiko – oft mit tödlichem Ausgang.
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