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Neueröffnung in Clausthal-Zellerfeld

GZ Plus IconImke Bosses tapferer Weg von der Schockdiagnose zum eigenen Laden

Imke Bosse steht zu ihrem Rollator und bewegt sich damit selbstbewusst in ihrem neuen Geschäft am Clausthaler Kronenplatz.

Imke Bosse steht zu ihrem Rollator und bewegt sich damit selbstbewusst in ihrem neuen Geschäft am Clausthaler Kronenplatz. Foto: Knoke

Mit 21 Jahren erhält Imke Bosse die Diagnose Multiple Sklerose und eine düstere Prognose. 25 Jahre später eröffnet sie in Clausthal-Zellerfeld ihren „Kleinen Inselladen“ und zeigt, wie man trotz Krankheit neue Wege gehen kann.

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Von Corinna Knoke
Mittwoch, 17.09.2025, 19:45 Uhr

Clausthal-Zellerfeld. Imke Bosse schiebt ihren Rollator durch den „Kleinen Inselladen“ am Clausthaler Kronenplatz. Zwischen Wollpullovern, Teedosen und schottischen Decken wird noch gewerkelt und dekoriert. Am 4. Oktober eröffnet sie hier ihr erstes eigenes Geschäft – entstanden aus einer zufälligen Gelegenheit und gewachsen zu einem Herzensprojekt. Dass sie diesen Schritt mit 46 Jahren wagt, grenzt für viele an ein kleines Wunder. Mit 21 erhielt sie die Diagnose Multiple Sklerose (MS) und die Prognose, bald im Rollstuhl zu sitzen. Heute ist Imke Bosse weit davon entfernt, aufzugeben.

Bei dem niedlichen Schaf kann Imke Bosse nicht widerstehen. Es begrüßt die Kunden im „Kleinen Inselladen“, der am 4. Oktober eröffnet.

Bei dem niedlichen Schaf kann Imke Bosse nicht widerstehen. Es begrüßt die Kunden im „Kleinen Inselladen“, der am 4. Oktober eröffnet. Foto: Knoke

Damals begann alles mit einem leichten Kribbeln im Bein und einer heißen Teetasse, die sich für Bosse eiskalt anfühlte. Ihr Hausarzt schickte sie sofort zum Neurologen. Ein MRT und eine Lumbalpunktion später war da plötzlich diese Abkürzung, die ihr Leben umkrempeln sollte: MS. „Mit 21 ist man ja fast noch ein Kind“, sagt sie heute. Ihr Arzt sprach von einer schweren Verlaufsform und prophezeite ihr, dass sie in fünf Jahren im Rollstuhl sitzen würde. Informationen bekam sie kaum, also bestellte sie Broschüren bei Pharmafirmen. Das Internet in heutiger Form gab es damals noch nicht.

Familiengründung im Schnelldurchgang

Multiple Sklerose ist eine chronische Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die schützende Hülle der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark angreift. Diese Schäden stören die Signalweiterleitung der Nerven und können zu vielfältigen Symptomen führen – von Kribbeln und Taubheitsgefühlen bis hin zu Lähmungen und Erschöpfungszuständen.

Bosses Krankengeschichte zeigt, wie sehr Prognosen danebenlegen können. Sie beendete ihr Geologie-Studium an der TU Clausthal nach dem Vordiplom, weil die Geländegänge für sie langfristig nicht mehr möglich waren. Gleichzeitig ließ sie der Gedanke nicht mehr los, eine Familie zu gründen, solange es noch ging. Mit ihrem heutigen Mann Michael, den sie an der Oberharzer Universität kennenlernte, erlebte sie alles im Schnelldurchgang: Im Februar zusammengekommen, im Juli zusammengezogen, im August beschlossen, ein Kind zu bekommen, im Oktober schwanger, im Mai geheiratet, im Juni kam der Sohn zur Welt, kurz darauf die Tochter.

Medikamente mit Nebenwirkungen

Ihre Krankheit entwickelte sich anders als befürchtet. Nach einer schubförmigen Phase ging es bei Imke Bosse in einen kontinuierlichen Verlauf über. Medikamente halfen wenig und verursachten starke Nebenwirkungen, erzählt sie: „Ich habe sie darum irgendwann weggelassen.“ Die extremen Nierenschmerzen seien schnell verschwunden. Heute hält sie sich mit gesunder Ernährung, Nahrungsergänzungsmitteln und Bewegung fit. Ihre linke Körperseite ist schwächer, sie hat Probleme mit Fußheber und Hüftbeuger, braucht mehr Zeit beim Gehen. Aber im Rollstuhl sitzt sie auch 25 Jahren nach der niederschmetternden Diagnose nicht. Erschöpfungszustände kennt die 46-Jährige kaum noch.

Draußen ist Imke Bosse mit ihrem Elektromobil unterwegs und hat sich an die Blicke der Leute gewöhnt.

Draußen ist Imke Bosse mit ihrem Elektromobil unterwegs und hat sich an die Blicke der Leute gewöhnt. Foto: Knoke

Vor fünf Jahren, damals noch in Rothenburg ob der Tauber, schaffte sie sich einen Rollator für drinnen und ein Elektromobil für draußen an. „Das war für mich eine riesige Erleichterung“, sagt sie. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie wieder ein Eis in der Altstadt essen. Heute muss sich ihr Mann ziemlich sputen, um zu Fuß neben ihren acht Kilometern pro Stunde mitzuhalten. Bosses anfängliche Scham über die angeblichen Senioren-Hilfsmittel ist verschwunden: „Ich hatte Angst vor den Blicken. Aber die meisten Menschen gucken nur, ohne etwas Böses zu denken.“

Aus Bayern zurück in den Oberharz

Als die Kinder aus dem Haus waren, zog es das Ehepaar aus Bayern zurück in den Oberharz. In Clausthal-Zellerfeld kauften die beiden das ehemalige Bürgermeisterhaus am Kronenplatz. Unten residierte früher der Hauptverwaltungsbeamte, oben lebte er. Dass zu der Wohnung ein Geschäft dazugehörte, war für sie purer Zufall. Die Idee, dort einen Laden aufzubauen, kam fast automatisch. Vier Jahre hatte Imke Bosse in Süddeutschland in einem Geschäft gearbeitet, das Produkte von den britischen Inseln verkaufte. Ein Urlaub in Schottland hatte sie nachhaltig beeindruckt. Nun will sie dieses Lebensgefühl in den Oberharz holen.

Der „Kleine Inselladen“ ist knapp 50 Quadratmeter groß und mit viel Liebe eingerichtet. Das Sortiment kommt aus Schottland, England, Irland und Neuseeland. Im Angebot sind Wollwaren, Kleidung, Decken, Schmuck, Whisky, Tee und englische Süßigkeiten. Nachhaltigkeit spielt nicht nur bei den Produkten eine große Rolle, sondern auch bei der Einrichtung. Die Möbel sind gebraucht, einige hat Bosse sogar geschenkt bekommen. Ein Jahr lang hat sie mit ihrem Mann Michael das Konzept entwickelt und den Laden aufgebaut. Er arbeitet als Ingenieur im Homeoffice und hat beim Ausbau tatkräftig geholfen. „Ohne ihn hätte ich das nicht geschafft“, gibt sie zu. Die Öffnungszeiten sind bewusst so gewählt, dass die 46-Jährige nicht den ganzen Tag auf den Beinen sein muss: Montag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr und Samstag von 10 bis 14 Uhr.

Mutmacherin für andere Betroffene

Heute, kurz vor der Eröffnung, ist Imke Bosse mehr als eine Ladeninhaberin. Sie ist Mutmacherin für andere Betroffene. „Jeder MS-Verlauf ist so unterschiedlich wie die Patienten selbst“, sagt sie. 25 Jahre später weiß sie, wie verantwortungslos die Prognose ihres Arztes damals war. Aber sie hat sich nie unterkriegen lassen.

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