Warum die geplante Straßenbahn nie gebaut wurde

Barmer Bergbahn: So würde Straßenbahn in den Zwanziger Jahren in Goslar aussehen. Doch die Strecke wird nie verwirklicht. Foto: Siemens Historical Institute
Eine Straßenbahn sollte das Okertal erschließen und Touristen nach Goslar locken. Doch daraus wurde nichts. Was verhinderte den Bau der Verbindung? Eine historische Analyse.
Goslar. Eine Straßenbahn für Goslar? Der Industrieverein machte vor 100 Jahren mobil, um eine elektrische Verbindung zwischen Goslar und Oker zu verwirklichen. Die Siemens-Schuckertwerke (Berlin) sollten das Projekt verwirklichen, das damals mit rund 500.000 Mark kalkuliert wurde. Doch die Straßenbahn in Goslar wurde nie gebaut.
Die Experten bei den Siemens-Schuckertwerken gingen 1925 davon aus, dass ein einzelner Straßenbahn-Triebwagen auf der Strecke zwischen Goslar und Oker die meiste Zeit genügte. In der „Rush Hour“, wie es heute neudeutsch heißt, sollten ein beziehungsweise zwei Wagen angehängt werden.
81.000 Kilometer würde der Triebwagen innerhalb eines Jahres zurücklegen, die zeitweise angehängten Wagen circa 35.000 Kilometer. Daraus ergab sich, dass „die zu erwartenden Betriebseinnahmen gerade ausreichen würden, um die Betriebsausgaben zu decken und einen Betrag für die Erneuerung zurückzulegen, jedoch steht ein Überschuß zur Verzinsung des investierten Kapitals nicht zur Verfügung“.
Touristen in der Straßenbahn
„Kein günstiges Bild“, das die Siemens-Schuckertwerke von dem Projekt Mitte Juni 1925 zeichneten, und die Enttäuschung bei den Befürwortern in Goslar war groß. Doch ein namentlich nicht genannter Redakteur der Goslarschen Zeitung war der Ansicht, dass es verkehrt wäre, „wenn man nach den kürzlich veröffentlichten Zahlen die Flinte schon ins Korn werfen (...) wollte“. Es zeigte sich, dass den Beratern ein Rechenfehler zu Lasten des Projekts unterlaufen war, denn sie hatten die Touristen außer Acht gelassen, die die Straßenbahn bis zur Endstation in Oker hätten nutzen können, um von dort aus ihre Wanderungen im schönen Okertal zu beginnen.
Jährlich, so schätzten die hiesigen Hotelbesitzer erwanderten zwischen 500.000 und einer Million Menschen damals das Okertal. Ob der Industrielle Hans Heinrich Helms, der das Straßenbahnprojekt in Goslar vorantreiben sollte, als Geschäftsführer des Hotelbesitzerverbandes Harz diese Kritik selbst vorgebracht hatte, konnte nicht ermittelt werden.
Elektrisch ins Okertal
„Auch der Fremdenverkehr ist rechnerisch nicht berücksichtigt und damit wohl eine Unterschätzung desselben bekundet, die für das Goslarer Wirtschaftsleben eigentlich unstatthaft ist. Wenn die geplante Bahnanlage ausgeführt und erst weiteren Kreisen bekannt sein wird, dürfte ein weitaus größerer Teil der das Okertal von Ferne her Besuchenden nicht wie jetzt bis Bahnhof Oker fahren und von da aus ihren Wanderweg beginnen, sondern die Gelegenheit mehr als bisher benutzen, auch unsere alte Kaiserstadt kennen zu lernen und von ihr aus sich durch die elektrische Bahn schnell und bequem zum waldigen Beginn des Okertales fahren zu lassen“, hieß es. Angenommen, zehn Prozent der 500.000 Okertal-Wanderer nutzten die Straßenbahn für eine einfache Fahrt, und die Hälfte davon kaufte auch eine Rückfahrkarte, dann würden 75.000 Einzelfahrscheine verkauft.
Chance beim Schopfe packen
Die neue Verbindung mit Oker war von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Man erhoffte sich davon einen Aufschwung für Gewerbetreibende, Kaufleute und das Gastgewerbe, sodass die Goslarer Straßenbahn-Kommission im Juni 1925 durch Vertreter aus diesen Bereichen erweitert wurde. Durch eine positive Entwicklung würden „alle Kreise der Stadt Goslar mittelbar in ihren Interessen durch die Anlage der elektrischen Bahn berührt (...) werden“. Ein in einem der GZ-Artikel von 1925 zum Projekt veröffentlichter gut gemeinter Rat, der auch im Jahre 2025 an Aktualität nichts eingebüßt hat, lautete wie folgt: „Mögen doch alle für die Entscheidung der Bahnfrage in Betracht kommenden Kreise sie von weiteren Gesichtspunkten ins Auge fassen und sich nicht so zaghaft, sondern wagemutig erweisen, als es in ähnlichen Fällen unsere [sic] Vorfahren in den letzten Generationen waren, die es unterließen, günstige Gelegenheiten beim Schopfe zu fassen und andere die Früchte ernten ließen, die sie selbst zu pflücken in der Lage waren.“
Oker, Harzburg, Winuwuk
Mitte Juni 1925 wurden dann die Korrekturen bei der Rentabilitätsberechnung unter Berücksichtigung des Fremdenverkehrs vorgenommen. Zudem wurden die Siemens-Schuckertwerke um einen kostengünstigeren Bau durch den Einsatz ortsansässiger Firmen gebeten. Und tatsächlich wurden die Baukosten um 100.000 auf 450.000 Mark reduziert. Nach der neuen Berechnung würde das Projekt sogar einen Überschuss von 4.450 Mark (heutiger Wert 20.470 Euro) abwerfen.
Auch Hermann Rese, der „Vater der Sommerzeit“ und gelegentlicher Mitarbeiter der Goslarschen Zeitung, äußerte sich im August 1925 im redaktionellen Teil ausführlich zu diesem Thema. Er, der anfangs ein Kritiker war, sah in dem „genialen Gedanken“ auch große Chancen für den innerstädtischen Verkehr beziehungsweise die Nutzung der Bahn zu Freizeitzwecken.

Am Ende siegt das Auto über die Straßenbahn-Pläne in den Zwanziger Jahren in Goslar. Unser Foto zeigt Anna und Friedrich Uekermann in dem Auto, in dem sie 1928 verunglückten. Uekermann war Unternehmer und vielfältig in Goslar engagiert – ob im Verein für Fremdenverkehr, im Kaufmannsverein, bei den Schützen, der Feuerwehr oder im Männergesangverein. Das Geschäft der Uekermanns war damals in der Rosentorstraße/Ecke Wohldenberger Straße. Foto: Privat
So schrieb Rehse: „Goslar ist vor allen Dingen groß geworden durch seine glänzenden Eisenbahnverbindungen, seine guten Hotels, eine vor Jahrzehnten entwickelte starke Initiative der Stadtverwaltung in Bezug auf eine glänzende Erschließung von Villenquartieren und durch die Parkanpflanzung des Oberförsters Reuß. Jetzt handelt es sich darum, Goslar mehr oder weniger den ganzen großen Okertalverkehr zuzuführen, und da soll man nicht ängstlich und zaghaft sein. Auch die Goslarer selbst würden das Okertal eben durch diese Bahn weit mehr besuchen. Auch Waldtouren nach und von Harzburg und Winuwuk werden durch Vermittlung dieser Bahn weit mehr in Aufnahme kommen. Ja selbst vom Steinbergviertel wird man vielfach die Bahn bis zum Breiten Tor benutzen, um zur Bleiche zu gelangen und umgekehrt. Aber mutig vorwärts mit der Sache!...“
Zur Erläuterung: Das „Café Winuwuk“ an der Waldstraße in Bad Harzburg war 1922/23 vom Worpsweder Bildhauer Bernhard Hoetger im expressionistischen Stil geschaffen worden. Aber wieder voraus ins Jahr 1925:
Eine Woche vor Weihnachten 1925 fand eine mehrstündige Besprechung im Goslarer Rathaus statt. Neben dem Oberbürgermeister Klinge und Vertretern der Stadt waren das Gremium des Industrie-Vereins und die Sachverständigen der Siemens-Schuckertwerke anwesend. Einer der Siemens-Experten hielt einen Vortrag, und „die anschließende Aussprache ergaben Übereinstimmung darüber, dass der Straßenbahnausbau in dem vom Industrie-Verein vorgesehenen Ausmaße rentabel und deshalb sehr wohl ausführbar wäre. (...) Es wird nun Aufgabe der Beteiligten sein, in den weiteren Kreisen der Bürgerschaft ein ausreichendes Interesse für das Unternehmen zu wecken, sodass aus ihr die vom Magistrat erwünschte Garantie geleistet wird und das dem Goslarer Wirtschaftsleben und besonders für seine Arbeiterkreise so wünschenswerte Verkehrsmittel recht bald ins Leben treten möge.“ Doch am Ende hieß es: Außer Spesen nichts gewesen.
Autorundfahrten statt Tram
Kraftfahrzeuge, seien es Busse oder Pkw, waren damals zeitgleich unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Nicht zum Gefallen eines Jeden. So forderte im Herbst 1925 der stellvertretende Gemeindevorsitzende von Oker und Kreistagsabgeordnete Adolf Meiß sen. in einer Kreisversammlung in Wolfenbüttel, das Okertal an Sonn- und Feiertagen für Kraftfahrzeuge zu sperren: „Das Okertal werde jährlich von 250.000 bis 300.000 Fremden besucht und die Reichsbahn werde im kommenden Jahre noch mehr Sonderzüge nach dem Harz leiten, so daß mit einer Zunahme des Verkehrs gerechnet werden müsse. Die Freude an den Naturschönheiten werde aber stark herabgemindert durch den Kraftwagenverkehr.“ Als öffentlich deklarierter Autogegner erntete der Abgeordnete Meiß scharfe Kritik von der Verkehrs- und Wirtschaftsgemeinschaft Oberharz, die ihren Gästen natürlich das Okertal bei Autorundfahrten zeigen wollte.
Was würde Meiß – Urgroßvater der Autorin – als begeisterter Naturfreund und Wanderer sowie langjähriger Vorsitzender des Harzklub-Zweigvereins Oker wohl davon halten, wenn er heute, 100 Jahre später, an den Naturschönheiten „seines“ Okertals tatsächlich vorbeifahren würde?
Fortsetzung folgt.
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