Zähl Pixel
Gastbeitrag zum Goslarer Musikpreis

GZ Plus IconNazi-Opposition: Kabarettist Robert Dorsay zahlt mit dem Tod

Türen auf für das „Dr.-Goebbels-Heim“ (v.l.): Paul Lincke, der Harzburger Bürgermeister Hermann Berndt und Franz Lehár stellen sich im Frühjahr 1938 zur Einweihung des so benannten Versorgungswerks Deutscher Komponisten den Fotografen. Später wird die Immobilie zum Hotel „Vier Jahreszeiten“.

Türen auf für das „Dr.-Goebbels-Heim“ (v.l.): Paul Lincke, der Harzburger Bürgermeister Hermann Berndt und Franz Lehár stellen sich im Frühjahr 1938 zur Einweihung des so benannten Versorgungswerks Deutscher Komponisten den Fotografen. Später wird die Immobilie zum Hotel „Vier Jahreszeiten“. Foto: Archiv Ahrens

Nazi-Nähe oder Widerspruchsgeist? In einem Gastbeitrag zur Verleihung des Goslarer Musikpreises beschäftigt sich Dr. Donald Giesecke mit dem Schicksal von Robert Dorsay, der am 29. Oktober 1943 in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet wird.

Von Dr. Donald Giesecke Donnerstag, 30.10.2025, 10:00 Uhr

Hahnenklee. Die Diskussion um den Paul-Lincke-Ring ist beendet: Er wird nicht mehr unter diesem Namen in Goslar verliehen, sondern erhält den neuen Namen „Der goldene Ton – Musikpreis der Stadt Goslar“. Schon mit Beginn der Diskussion, die im wesentlichen Linckes offensichtliche Nähe zur Führungselite des „Dritten Reiches“ und sein „Sich Instrumentalisierenlassen“ kritisierte, waren die Würfel gefallen. Jeder potenzielle Ringträger würde immer mit dem „Geschmäckle“ konfrontiert werden, dies wohlwollend in Kauf zu nehmen oder bewusst gar nicht in Frage zu stellen. Insofern ist die Entscheidung korrekt und nachvollziehbar.

Die Beurteilung retrospektiv

Ein schwieriges Unterfangen ist es, aus heutiger Perspektive – in Freiheit und Wohlstand, ohne Sorgen und bei guter Gesundheit – sich in die Zeit zu versetzen, über die wir heute gern das Zepter brechen und das Verhalten der Menschen verurteilen oder wertschätzen. Um sich einer objektiven Bewertung zu nähern, bedarf es mehr als nur Pro oder Contra, weil die jeweils herrschenden Rahmenbedingungen jedes menschliche Verhalten beeinflussen. Sie können äußerst vielschichtig sein und sind – das können wir objektiv heute so konstatieren – während der NS-Zeit, die hauptsächlich im Fokus steht, nicht nur besonders problematisch, sondern auch gefährlich für alle Personen, die nicht in das gewünschte Schema der nationalsozialistischen Ideologie passten. Unzweifelhaft dürften die Personen in den wichtigsten Positionen aller unterschiedlichen Bereiche mehr Informationsmöglichkeiten gehabt haben und manches mehr gewusst oder Vergleichsmöglichkeiten gehabt haben. Das hat viele zu Mitwissern gemacht. Sofort stellt sich die durchaus berechtigte Frage: Wie wurde reagiert? Oder wurde eben bewusst nicht reagiert? Und warum wurde so oder so entschieden? Und natürlich auch die entscheidende Frage, was Paul Lincke widerfahren wäre, wenn er sich dagegen gestellt hätte.

Es ist die grundsätzliche Frage, wie der einzelne in einer Diktatur entweder versucht, zu überleben und das Beste daraus für sich zu machen. Oder wie er trotz der Gefahr für Leib und Leben sich dagegen stellt.

Robert Dorsay stellt sich dagegen

Robert Dorsay

Robert Dorsay Foto: Archiv Giesecke

Robert Dorsay, Jahrgang 1904, bekannter Schauspieler, Kabarettist, Tänzer und Sänger der deutschen Bühnen- und Filmbranche in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, gehört zur letzteren Kategorie. Er lässt sich den Mund nicht verbieten, vielleicht sich auch in einer vermeintlichen Sicherheit sich wähnend. Aber er wird auch von seinen Freunden, Bekannten, Kollegen und Kameraden, die ihm wohlgesonnen sind, mehrfach darauf hingewiesen: „Halt die Klappe – irgendwann kaschen sie dich!“ Oder: „Denk dran: Feind hört mit!“ Aber er baut darauf, dass sein Kollegenkreis eine verschworene Gemeinschaft ist und insofern verschwiegen und vertrauenswürdig. Trotzdem bleiben seine immer wieder das nationalsozialistische System kritisierenden Äußerungen mündlicher wie schriftlicher Art nicht unerkannt, er wird beobachtet. 1939 fällt er bei Propagandaminister Joseph Goebbels in Ungnade und wird mit Filmverbot belegt, nachdem er mehrfach die Aufforderung zum NSDAP-Beitritt abgelehnt hat. Zusätzlich verliert er seine „uk“-Stellung (Unabkömmlichkeitsstellung) und wird 1942 zum Wehrdienst zur in Osterode in Ostpreußen stationierten Kraftfahr-Ersatz-Abteilung 1 eingezogen.

In derselben Einheit ist kurz davor auch aus Königsberg der 38-jährige Psychologie-Professor, Verhaltensforscher und spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz aus dem Berufsleben herausgezogen worden. Der Rekrut Dorsay, geführt unter seinem Geburtsnamen „Stampa“, ist mit fast 38 Jahren annähernd 20 Jahre älter als seine Kameraden und wird Kraftfahrer. Er empfindet seine Einberufung als Schikane, aber er hegt auch die Hoffnung wie sein Kollege, der Kaberettist Werner Finck, dass der Status als Wehrmachtangehöriger jetzt vor Repressalien der Partei beziehungsweise des Goebbels-Apparates schützt.

Darüber hinaus lässt der Kommandeur der Abteilung seinem prominenten Rekruten Dorsay entsprechende Freiräume zur unterhaltungsmäßigen „Betreuung“ der Vorgesetzten und Mitsoldaten. Er wird zum festen Bestandteil des Soldaten-Freizeitangebotes der ansonsten eher abwechslungsarmen Garnisonsstadt Osterode. Seine Briefe werden geöffnet und kontrolliert. Ein Satz ist besonders verfänglich: „Wann ist endlich Schluß mit dieser Idiotie?“ führt im April 1943 zu einem über zwei Instanzen gehenden Kriegsgerichtsverfahren wegen „Wehrkraftzersetzung“ gegen ihn. Das in August 1943 ausgesprochene Zuchthausurteil des „Sonder-Standgerichtes für die Wehrmacht“ beim Reichskriegsgericht hebt der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, als zu milde auf. In der Neuverhandlung vor dem Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin wird Dorsay zum Tode verurteilt und am 29. Oktober 1943 in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet.

Künstler in der NS-Zeit

Bereits im September 1933 wird die Reichskulturkammer gegründet, die das kulturelle Schaffen zusammenfasst und der Gleichschaltung aller Bereiche des Kulturlebens und die Regelung der sozialen und wirtschaftlichen Belange aller Kulturschaffenden via Zwangsmitgliedschaft bewirkt. Sitz der Reichskulturkammer ist Berlin. Sie untersteht direkt dem Präsidenten, Volksminister für Propaganda und Aufklärung Joseph Goebbels. Sie ist in sieben Unterabteilungen für Literatur, Musik, Theater, Film, Rundfunk, Bildende Künste und Presse aufgeteilt, deren Präsidenten von Joseph Goebbels ernannt werden.

Die Funktionsweise der jeweiligen Unterabteilungen ist identisch: Wenn die „nach der Reichskulturkammergesetzgebung erforderliche Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung“ nicht vorliegt, wird der Aufnahmeantrag – mit Ariernachweis – abgelehnt und gleichzeitig „mit sofortiger Wirkung das Recht zur weiteren Berufsausübung auf jedem zur Zuständigkeit der Reichs(musik)kammer gehörenden Gebiete“ ausgesprochen. Eine Beschwerde ist möglich und an den Präsidenten der jeweiligen Einzelkammer zu richten. Das wichtigste Ziel ist die Kontrolle und Überwachung aller Kulturschaffenden. Daneben nutzen alle Unterabteilungen ihre Möglichkeiten voll aus, um entsprechend ins System passende Künstler zu instrumentalisieren und medienwirksam in Szene zu setzen.

Paul Lincke und Robert Dorsay

Paul Lincke

Paul Lincke Foto: picture-alliance / dpa

Paul Lincke widerfährt in den 1930er Jahren dieses natürlich aus heutiger Sicht fragwürdige Privileg. Dorsay spielt in dem als Komödie angelegten antisemitischen Propagandafim „Robert und Bertram“ 1939 mit Trotzdem erfüllt er aber eben mit seiner Ablehnung der Aufnahme in die NSDAP und seiner bekannten Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nicht die Norm der „Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung“ und erhält Filmverbot. Ein Filmverbot kann gleichzeitig Verlust der Existenzgrundlage sein – weitere Konsequenzen außen vorlassend. Mindestens 47 weitere Kollegen aus der Filmbranche (und 59 Komponisten und Musiker) passen sich nicht an. Sie kritisieren das System und werden bis 1945 zum Tode verurteilt, kommen in Konzentrationslagern ums Leben oder setzen durch Suizid ihrem Leben ein Ende.

Die Kulturschaffenden aus den Bereichen Musik, Film und Theater sind sich aufgrund der Überschneidungen ihrer Genres vielfach untereinander nicht unbekannt. Vertrauenswürdig sind die jeweiligen Kontakte sicher nicht immer, denn Denunziantentum ist in diktatorischen Systemen sehr ausgeprägt. Ein vermeintlich sicherer Kontakt dürfte auch im Fall Dorsay für die letztlich todbringende Entwicklung verantwortlich sein.

„Wann ist endlich Schluß mit dieser Idiotie?“ Dieser Satz reicht 1943 dazu, einen Menschen zum Tode zu verurteilen. Im Bereich der Reichskulturkammer gibt es eine Vielzahl Kulturschaffender, die die Voraussetzungen zur (Zwangs-)Mitgliedschaft nicht erfüllen, unter Beobachtung stehen, verfolgt, inhaftiert und im mindestens dreistelligen Bereich auch ihr Leben verlieren.

Das Urteil von heute

Heute in der Retrospektive könnten bei der Beurteilung von Lebensläufen zwei Betrachtungsaspekte zur Anwendung kommen, die sich kurz und prägnant darstellen lassen – als eine Handlungsoption, die zielführend, geradlinig und konsequent ist. Und eine Handlungsoption, die opportunistisch, angepasst und menschelnd ist.

ZUM AUTOR

Dr. Donald Giesecke ist selbstständiger Zahnarzt in Goslar und war bis 1992 als Oberfeldarzt der Bundeswehr tätig, zuletzt auf dem Fliegerhorst in Goslar.

Bis 2012 leitete er die Sektion Goslar der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und ist aktuell Vorsitzender der Kameradschaft Ehemaliger Goslarer Jäger. Zu seinem Amtsantritt 2023 hat sich die Kameradschaft in einen gemeinnützigen Verein umgewandelt.

Dr. Donald Giesecke

Dr. Donald Giesecke Foto: Kleine

Giesecke hat Werke über den Fliegerhorst und weitere militärgeschichtliche Themen der Stadt Goslar veröffentlicht. Zuletzt hatte er in der GZ in einem viel beachteten Mehrteiler über General Walther Wenck und das Kriegsende 1945 an der Elbe geschrieben.

In seinem Beitrag zum Musikpreis und Paul Lincke geht es ihm um das Dilemma mit dem Umgang unserer Zeitgeschichte. Oder die Zwickmühle in der Entscheidungsfindung, die kein Richtig oder Falsch anbieten konnte, als es darum ging, den Paul-Lincke-Ring zu erhalten oder zu beenden. fh

Die erste Handlungsoption ist theoretisch, orientiert sich an unserer heutigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung, ist christlich geprägt, an die Menschenrechte gebunden und ist entwickelt auf der Basis sozialer Sicherheit. Der Lebenslauf ist in sich schlüssig und passt zu unserer heutigen Perspektive. Er verfolgt ein klares Ziel, das oberste Priorität hat. Das bedeutet bei der Beurteilung von Lebensläufen, dass abseits dieser Vorgaben liegende Lebensabschnitte und Verhaltensweisen nicht toleriert werden können, weil damit die Linearität des Lebenslaufes gestört und jederzeit angreifbar und kritisierbar ist. Legen wir diesen Maßstab an, hätte sich Paul Lincke gegen die Instrumentalisierung seiner Musik im Sinne des Nationalsozialismus wehren müssen und hätte keine Anstalten machen dürfen, sich dem Nationalsozialismus respektive der Führungsriege anzubiedern oder gemeinsam aufzutreten. Dorsay hingegen hat – trotz der Gefahr beruflicher Einschränkung und möglicher Inhaftierung und sonstiger Bestrafung – konsequent seinen Weg weiter verfolgt, die Verurteilung zum Tode als letzte Konsequenz in Kauf nehmend.

Die andere Handlungsoption konzentriert sich auf den Menschen in seinem Umfeld und seine möglichen Perspektiven, die unter Berücksichtigung der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Konstellationen trotz möglicher Kritik und Gegnerschaft zum herrschenden System das Überlebenwollen mit entsprechenden Kompromissen an erste Stelle des Handelns setzt. Das Handeln erscheint opportunistisch und angepasst. Diese quasi sozialwissenschaftlichen Aspekte erfahren in der Geschichtsschreibung und eben auch bei Bewertungen von Lebensläufen immer mehr Beachtung, da sie hilfreich sind, Handeln besser im Kontext möglicher Optionen einzuordnen.

Welche Lösung mag richtig oder falsch sein?

Es ist schwierig, sich den beiden Varianten zu verschließen. So sehr wir die erste vom Grundsatz favorisieren und für erstrebenswert erachten, so sehr neigen wir auch dazu, die menschliche Komponente der zweiten Variante in Anspruch nehmen zu wollen. Im konkreten Fall können wir nicht uneingeschränkt die Vita von Paul Lincke akzeptieren, wenn wir das Bewertungsniveau so eindeutig und konsequent anwenden. Es reicht bei dieser Betrachtung nicht, dass Biograf Jan Kutscher die klare Aussage zu Lincke trifft, dass er kein Antisemit und kein Nationalsozialist war. Sein Lebenslauf ist nicht uneingeschränkt nach unseren heutigen Bewertungskriterien als identifikationsstiftend geeignet. Aber der Lebenslauf ist sehr wohl geeignet, sein Verhalten unter den herrschenden Rahmenbedingungen verständlich zu machen. Daher ist die Entscheidung, den Paul-Lincke-Ring nicht weiter als Musikpreis der Stadt Goslar zu vergeben, richtig. Der Erhalt des Musikpreises selbst ist jedoch wichtig – möge der Goldene Ton die goldrichtige Lösung sein. Gutes Gelingen.

Weitere Themen aus der Region