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Wer von den Nazis umgebracht wurde

GZ Plus IconEuthanasie-Morde: Die Namen und Schicksale der Goslarer Opfer

Gegen das Vergessen; Auf der Hokenstraße erinnern seit 2023 vier Stolpersteine an die Opfer aus den Reihen der jüdischen Familie Heilbrunn.

Gegen das Vergessen; Auf der Hokenstraße erinnern seit 2023 vier Stolpersteine an die Opfer aus den Reihen der jüdischen Familie Heilbrunn. Foto: Heine (Archiv)

Es sind neun Namen, die für das Goslarer Morden der Nazis stehen. Als die braunen Machthaber ihre tödlichen Pläne an Kranken in die Tat umsetzen, sind auch Menschen aus der Nachbarschaft unter den Opfern. Dr. Stefan Cramer listet die Schicksale auf.

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Von Frank Heine
Montag, 26.05.2025, 16:00 Uhr

Goslar. Otto Dienelt. Wilhelm Volkmann. Carl Herrling. Anna Herrling. Auguste Müller. Anna König. Albert Müller. Karl Schlüter. Und Hermann Kassebaum. Neun Namen. Neun Opfer. Sie geben einem besonders widerlichen Kapitel Goslarer Geschichte Gesichter, das die Nazis in ihrer Herrschaft schrieben. Ihnen widerfuhr, was die Täter verbal mit Euthanasie schönfärbten und aus ihrer Sicht eigentlich nichts anderes meinte als die Vernichtung unwerten Lebens. Gemeinhin war dies damals und ist es auch noch heute nichts anderes als organisierter Mord.

„Eu“ bedeutet im Altgriechischen „gut“ oder „schön“. „Thanatos“ steht für „Tod“ oder „Sterben“. Nein, die Opfer fragte niemand, als die Nazis ihre systematischen Krankenmorde begingen. Schönes Sterben? Ein Gnadentod gar? Mitnichten. Angehörige hatten nichts zu sagen, auch wenn sie sich zu wehren suchten. Zwischen 1939 und 1945 verloren insgesamt zirka 200.000 Frauen, Männer und Kinder aus psychiatrischen Einrichtungen im Reich durch Gas, Medikamente oder Verhungern ihr Leben. Fast 100.000 Tote kamen aus den besetzten oder annektierten Gebieten hinzu.

Eine Stolpersteine-Veranstaltung im November 2023, mit vorne v.li.: Erika Hauff-Cramer, Stefan Cramer, Marleen Mützlaff, Dr. Kurt Fontheim.

Eine Stolpersteine-Veranstaltung im November 2023, mit vorne v.li.: Erika Hauff-Cramer, Stefan Cramer, Marleen Mützlaff, Dr. Kurt Fontheim. Foto: Kempfer (Archiv)

Als Dr. Stefan Cramer und Dr. Kurt Fontheim im August des Vorjahres in der GZ ankündigten, sich mit dem Erforschen Goslarer Schicksale zu beschäftigen und weitere Stolpersteine zum Gedenken zu setzen, nannten sie stellvertretend nur den Namen von Anna König, geborene Paulmann. Jetzt hat Cramer in den Stadtgeschichten des Geschichtsvereins die weiteren Opfer aufgelistet – und weiß inzwischen auch, dass das Montieren der kleinen glänzenden Mahnmale am 25. Juni (siehe Infos zu den Stolpersteinen) über die Bühne gehen soll. Jeder Name bedeutet ein Schicksal. Wen soll man da herausgreifen? Besonders gut ist laut dem Autoren-Duo das Leben und Sterben von Hermann Kassebaum dokumentiert. Und sein Beispiel zeigt auch, dass im Zweifel eine beruflich herausgehobene Stellung, ein großes Netzwerk und ein Bekanntheitsgrad nichts gegen blinde und brutale Ideologie ausrichten konnten. Denn Hermann wird 1901 im Haus seiner Eltern Professor Dr. Otto Hermann Kassebaum und Eugenia (geborene Rammerkamm) geboren.
Professor Dr. Hermann Kassebaum

Professor Dr. Hermann Kassebaum Foto: Privat

Der in Braunschweig geborene Vater tritt in diesem Jahr seine Stelle am Ratsgymnasium an, wo er 1892 auch schon sein Abitur gemacht hatte, unterrichtet das Fach Deutsch, wird Oberstudienrat, springt mehrfach als stellvertretender Direktor ein und publiziert zur Stadt Goslar. Später ist er an der Gründung des Ehemaligenvereins im April 1919 beteiligt und wird Ende 1920 noch im Schuldienst dessen Vorsitzender. Er prägt die ersten drei Jahrzehnte des Vereins noch über den Weltkrieg hinaus bis 1953. Als Kassebaum den Vorsitz bei den Ehemaligen an Dr. Otto Fricke abgibt, ist er 82 Jahre alt und wird zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Er stirbt am 20. April 1954.

Sein Sohn, so schreibt Cramer in aller Kürze, studiert, raucht, trinkt, feiert und macht Schulden. 1934 sei es zu einem ersten Zusammenbruch und zur Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim gekommen. „Dort bleibt er bis zur Ermordung am 28. April 1941 in der Gaskammer der Krankenanstalt Schloss Pirna-Sonnenstein bei Dresden“, heißt es weiter.

Künstler Gunter Demnig verlegt im Juni 2023 auf der Petersilienstraße den ersten Stolperstein für Selmar Hochberg.

Künstler Gunter Demnig verlegt im Juni 2023 auf der Petersilienstraße den ersten Stolperstein für Selmar Hochberg. Foto: Heine (Archiv)

Wer sind die anderen Euthanasie-Opfer? Das älteste unter ihnen ist der 1868 geborene Arbeiter Otto Dienelt. Der Bruder des Bergmanns Franz Dienelt aus der Forststraße kommt bereits mit 19 Jahren in die „Irrenanstalt Göttingen“. Infolge einer kriminellen Karriere landet er für vier Jahre im Zuchthaus Celle. Aus der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim wird er später mehrfach eingewiesen und wieder entlassen. In der hessischen „Landesheilanstalt Eichberg“, eigentlich nur eine Warteposition für die Tötungsmaschinerie in Hadamar, wird er Mitte April 1941 vergast.

AM 25. JUNI SOLLEN WEITERE SECHS STOLPERSTEINE VERLEGT WERDEN

Im Sommer 2023 hat die Initiative Stolpersteine des Vereins Spurensuche Harzregion zusammen mit dem Berliner Künstler und Ideengeber Gunter Demnig die ersten 13 kleinen Tafeln aus Messing zum Gedenken an jüdische Nazi-Opfer in Goslar verlegt. Sie erinnern an die Schicksale von Selmar Hochberg auf der Petersilienstraße, Willy, Henny und Kurt Heilbrunn sowie Richard Löwenthal auf der Fischemäkerstraße, Helene, Alfred, Ernst und Lucie Lebach auf der Rosentorstraße, Dagobert und Margarete Levy sowie Louis Meyer auf der Kornstraße. Die GZ hatte vor der Aktion in einer Serie deren Lebensgeschichten erzählt.

Die zweite Stolperstein-Runde ist laut Dr. Stefan Cramer jetzt für den 25. Juni (Mittwoch) geplant. Vorab hält Cramer zusammen mit Dr. Kurt Fontheim am 5. Juni beim Goslarer Geschichtsverein einen Vortrag mit dem Titel „Das vergessene Leid – Die Morde an Patienten in Goslar während der NS-Zeit“.

Tafeln als Opfer der Nazi-Euthanasie mit einem Bezug zu Goslar erhalten Hermann Kassebaum, der in der Von-Garßen-Straße 6 lebte und in Pirna-Sonnenstein ermordet wurde, Auguste Müller (geborene Theuerkauf), die im Worthsatenwinkel 1 zu Hause war und ebenso wie Anna König (geborene Paulmann) in Hadamar umgebracht wurde. König lebte in der Petersilienstraße 13.

Es gilt weiterhin die von Demnig aufgestellte Regel, dass die Steine möglichst vor dem letzten freiwilligen Wohnort der Opfer vor Einweisung in eine sogenannte Heil- und Pflegeanstalt verlegt werden sollen. Das ist bei den genannten drei Schicksalen der Fall.

Weitere Tafeln sind bestimmt für den jüdischen Schuster Josef Schacker vor der Breiten Straße 56, den katholischen Kaplan Johannes Jäger vor der Zehntstraße 18, und den Polizisten Friedrich Ostheeren vor der Petersilienstraße 17. Der Sozialdemokrat wurde am 29. Juli 1933 von SA-Schlägern im Goslarer Rathaus so schwer misshandelt, dass er am 17. April 1934 in Halberstadt verstarb.

Zu allen Personen hat die Initiative Biografien erarbeitet, die die GZ im Vorfeld der Stolpersteinverlegungen veröffentlicht. fh

Cramer zählt weiterhin Wilhelm Volkmann auf. 1888 in eine Bergmannsfamilie hineingeboren, schafft er es trotz Alkoholproblemen zum Obersteiger. Er stirbt am 10. Februar 1941 im Keller einer Anstalt in Bernburg. Der 1890 geborene Carl Herrling ist Sohn des Kaufmanns Wilhelm Herrling, der ein Papiergeschäft am Fleischscharren betreibt. Er zieht vor 1910 aus Goslar weg. Im Alter von 22 Jahren kommt er in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim, die er bis zu seinem Tod 1941 nicht mehr verlassen wird. Seine vier Jahre jüngere Schwester Anna Bertha Margarete Freda stirbt am 27. Mai 1943 in Weilmünster.
Die Anteilnahme ist groß: Viele Menschen verfolgen das Verlegen der Stolpersteine in der Innenstadt. Unter den aufmerksamen Beobachtern befinden sich auch Nachkommen der Goslarer Opfer des Nationalsozialismus.

Die Anteilnahme ist groß: Viele Menschen verfolgen das Verlegen der Stolpersteine in der Innenstadt. Unter den aufmerksamen Beobachtern befinden sich auch Nachkommen der Goslarer Opfer des Nationalsozialismus. Foto: Heine (Archiv)

Bei Auguste Müller (1884 geborene Theuerkauf) aus dem Worthsatenwinkel werden 1928 erste Krampfanfälle diagnostiziert. Sie wird in Göttingen behandelt, kommt später nach Hildesheim und wird am 24. Juni 1941 in Hadamar ermordet. Am selben Tag gibt dort auch die 1888 geborene Anna Paulmann, verheiratete König, ihr Leben. Ihr Vater ist Tischlermeister in der Petersilienstraße. Der 1907 geborene Albert Müller aus der Beekstraße wird nur 33 Jahre alt und am 4. Dezember 1940 in Bernburg ermordet. Karl Schlüter, noch zehn Jahre später in einem Haus an der Glockengießerstraße auf die Welt gekommen, zieht mit seinen Eltern früh nach Zerbst. Er kann weder sprechen noch lesen oder schreiben, als er bereits im Alter von zehn Jahren in die Landessiechenanstalt in Hoym aufgenommen wird. Er verlässt sie nur noch, auf dem Transport nach Altscherbitz, von wo aus er nach Bernburg gebracht und am 31. März 1941 ermordet wird.

Was bleibt noch zu erzählen? Vielleicht, dass „das Bewusstsein über dieses besonders dunkle Kapitel unserer Geschichte schwindet“, wie Cramer in seinem Beitrag bemerkt. Und er erinnert: Es sei noch nicht lange her, dass unbekannte Täter einen Ziegelstein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ in eine Einrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach geworfen hätten.

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