Zähl Pixel
Existenzen stehen auf dem Spiel

GZ Plus IconCampingplatz Prahljust: Wenn Menschen ihr Zuhause abreißen müssen

Das Bild zeigt eine Hütte, die gerade abgerissen wird. Ein junger Mann trägt Holz weg, rundherum liegt viel Schutt.

Weil eine offizielle Räumfrist bis Ende März 2026 besteht, sind die Abrissunternehmen auf dem Campingplatz Prahljust aktuell im Dauereinsatz. Foto: Knoke

Die Abrissbagger sind auf dem Campingplatz Prahljust unterwegs. Für manche Camper steht mehr als nur ein Stellplatz auf dem Spiel. Die GZ erzählt von ihren Schicksalen.

author
Von Corinna Knoke
Donnerstag, 18.12.2025, 04:00 Uhr

Buntenbock. Die sonst so idyllische Ruhe auf dem Campingplatz Prahljust wird gerade von Baggern und Abrissarbeiten gestört. Eine Parzelle nach der anderen verschwindet, die offizielle Räumungsfrist ist Ende März 2026. Doch nicht alle Dauercamper wollen gehen. Von den einst 200 sind laut Schätzung noch etwa 80 da. Für manche ist das Gelände das Zuhause. Wenn sie wirklich wegmüssten, wären sie obdachlos.

Anke und André (62 und 67) gehören dazu, sie haben in Prahljust ihren ersten Wohnsitz. Ursprünglich aus Braunschweig, können sie sich ein Leben in der Großstadt nicht mehr vorstellen. Auf dem Campingplatz duzt man sich, Nachnamen spielen daher keine Rolle. Seit fünf Jahren wohnen sie Tag und Nacht in ihrer Parzelle: ein Wohnwagen mit angrenzender Hütte. André ist in Wolfenbüttels schmalem Haus aufgewachsen, kommt also mit wenig Raum aus. Für andere wäre so ein Zuhause eng und bedrückend, viele würden Platzangst bekommen. Für Anke und André bedeutet es Freiheit. Sie fühlen sich wohl, nutzen jeden Quadratzentimeter.

Hier wird jeder Zentimeter genutzt: Die Hütte von Anke und André ist besser ausgestattet als so manch andere Küche. An den Decken und in den Schränken hängen und stehen viele Gewürze.

Hier wird jeder Zentimeter genutzt: Die Hütte von Anke und André ist besser ausgestattet als so manch andere Küche. Foto: Knoke

Grillmeister mit 15 Grills in der Parzelle

Dabei ist ihre Küche besser ausgestattet als bei vielen, die in einem richtigen Haus wohnen. Überall stehen Dosen und Gläser voller Gewürze, manche hängen sogar von der Decke. Profimesser, Kochutensilien, Töpfe, Schalen – alles findet seinen Platz. Wer kann schon behaupten, 15 Grills zu besitzen? André kann. Regelmäßig nimmt er erfolgreich an Grillmeisterschaften teil und zaubert dort ganze Menüs. Die Nachbarn in Prahljust freuen sich regelmäßig über Einladungen zu Grillpartys in Andrés „BBQ-Ranch“. Anke erzählt von gemütlichen Treffen am Lagerfeuer, die jedoch vielleicht bald vorbei sein könnten, weil viele Bekannte schon abgereist sind.

Viele Camper sitzen um ein Lagerfeuer herum.

Grillnachmittage oder Lagerfeuerabend gehören zum geselligen Miteinander auf dem Campingplatz dazu. Foto: Privat

Bislang haust das Ehepaar auf einem Teil des zehn Hektar großen Geländes, das im Besitz der Stadt ist. Nach dem Ratsbeschluss Anfang Dezember soll es zeitnah an die Berliner Überland-Camping-Gruppe verkauft werden. Diese besteht auf die Räumung bis Ende März. Für die Camper ist das nach wie vor ein Unding. In der Vergangenheit habe es Zusagen gegeben, dass niemand vom Platz geschmissen werde, wiederholen sie. Nun sieht die Realität anders aus.

Offene Briefe an Politik und Pächter

Die Interessengemeinschaft „Freunde Prahljust“ hat sich mit offenen Briefen an die Politik gewandt, zuletzt auch an die Familie Landers. In jenem Schreiben forderten die Camper, dass die bisherigen Pächter der städtischen Flächen ihr eigenes, vier Hektar großes Grundstück bloß nicht an Überland verkaufen sollen. Ein Gespräch zwischen Landers und dem potenziellen Käufer soll in einem großen Streit geendet haben. Offizielle Bestätigungen gibt es aber nicht.

André und Anke ziehen derzeit innerhalb des Campingplatzes um – auf eine Fläche im Besitz der Landers. Mit viel Aufwand und Mühe beziehen sie einen neuen Wohnwagen und wieder eine angrenzende Hütte. Die Braunschweiger haben die Hoffnung, so eine Gnadenfrist zu bekommen und den Platz nicht im Frühjahr verlassen zu müssen. Für andere Camper, die auf städtischem Grund stehen, ist die Lage unklar: Wer sich nicht an die Räumungsfrist hält, riskiert Regressansprüche oder Strafen. Viele stellen sich die Frage nach den Konsequenzen und wägen ab. Manche sind bereit, zu bleiben und das Risiko einzugehen, weil es um ihr Zuhause geht.

Mit zwei Herzinfarkten im Krankenhaus

Mit dem alten Wohnwagen einfach wegzufahren, ist wegen des Fahrzeugzustands nicht möglich, sagen Anke und André. Komplett Prahljust zu verlassen, wäre eine Katastrophe: Ihr kompletter Hausstand, ihr ganzes Leben, findet hier Platz. Der materielle Verlust wiegt schwer, doch noch schwerer trifft das Ehepaar die Ungewissheit. Der pensionierte Bus- und Straßenbahnfahrer André hat bereits zwei Herzinfarkte erlitten, der Stress um das Zuhause setzt ihm zu. Anke, bisher Reinigungskraft auf dem Campingplatz, wird durch die Schließung arbeitslos.

André alias der „Krustenmacher“ nimmt erfolgreich an Grillmeisterschaften teil und hat 15 Grills in seiner Parzelle.

André alias der „Krustenmacher“ nimmt erfolgreich an Grillmeisterschaften teil und hat 15 Grills in seiner Parzelle. Foto: Privat

An seinem Wohnwagen hisst André Fahnen, erst kürzlich hätten ihm die Nachbarn gesagt, dass sie sich dadurch richtig zu Hause fühlten. Aktuell flattert eine zerfetzte schwedische Fahne im Wind. „Passend zum Gemütszustand“, sagt André schmunzelnd, auch wenn ihm wahrlich nicht zum Lachen zumute ist.

Seit Kindheitstagen Gast in Prahljust

Als der Braunschweiger Nils (69) das erste Mal den Platz besuchte, war er etwa fünf Jahre alt. Seine Eltern waren begeisterte Harzfreunde und hatten von Bekannten erfahren, dass der Osteroder Reinhard Struve, der Vater der heutigen Betreiberin Karin Landers, einen Campingplatz eröffnet hatte. Nils erinnert sich noch daran, wie Struve anfangs in einem ausrangierten Omnibus wohnte. Zwei Plumpsklos und eine Holzhütte dienten als Waschgelegenheit. Der Platz war nur halb so groß wie heute, die Zufahrt lag an der Buntenbock zugewandten Seite. Hirschrudel überquerten regelmäßig die Wiese, um im Pixhaier Teich zu trinken, und im Herbst war die Hirschbrunft hautnah zu erleben. „Natur pur, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann“, sagt Nils.

Nils steht Ende der 1980er an seinem Wohnwagen. Es liegt viel Schnee. Ebenfalls auf dem Bild ist sein Sohn zu sehen.

Nils (r.) ist bereits Ende der 1980er mit seiner Familie regelmäßig auf dem Campingplatz Prahljust zu Gast. Foto: Privat

Seit Kindheitstagen ist er mit dem Platz verbunden, später besuchte er ihn mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Immer wieder wechselte er seinen Standort auf dem Gelände, aktuell lebt er seit zehn Jahren in seiner Parzelle. Dort fühlt er sich der Natur nah: Ein Fuchs besucht ihn regelmäßig, Eichhörnchen kommen auf Kuschelkurs, und ein geschützter Gartenschläfer lässt sich gern von ihm fotografieren. Beliebt ist sein hausgemachter Tannensirup vom Nadelbaum direkt vor der Tür.

Auf Kuschelkurs mit Eichhörnchen: An seiner Parzelle hat Nils viel tierischen Besuch.

Auf Kuschelkurs mit Eichhörnchen: An seiner Parzelle hat Nils viel tierischen Besuch. Foto: Privat

Immer wenn Nils auf dem Platz ist, genießt er morgens seinen Kaffee direkt am Pixhaier Teich. Besonders liebt er es, das tägliche Naturschauspiel zu beobachten. Gemütlich findet er auch den Winter im Oberharz: Wenn Schnee liegt, schnallt er sich vor seiner Tür die Skier an und läuft direkt bis nach Buntenbock zu den gespurten Loipen.

Er kommt dabei gern ins Gespräch mit anderen Campern, genießt aber auch die Momente, in denen er allein ist und dem Trubel der Großstadt entkommt. Bis vor einigen Jahren leitete er in Braunschweig eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche, ging dann im öffentlichen Dienst in Pension. Bis zum letzten Weihnachtsgeschäft führte er noch ein Schmuckgeschäft am Kohlmarkt. In der Regel war er alle zwei Wochen auf dem Platz. Nun wollte er eigentlich in seiner Vollrente öfter dort sein, denn mittlerweile sei Prahljust seine zweite Heimat.

Angst vor Veränderungen durch Überland

Er mag es, „direkt in der Pampa zu sein“, also auf einem naturbelassenen Platz ohne luxuriösen Schnickschnack. Ihm bereitet Sorgen, dass mit der Überland-Gruppe die Anlage zu einem glamourösen Campingplatz werden könnte. Rollrasen und symmetrische Hecken statt wilder Natur, befürchtet Nils. Online-Rezensionen anderer Überland-Campingplätze bestärken bei ihm und anderen Campern diese Angst.

Haben Angst um ihre Zukunft auf dem Campingplatz (v.l.) André, Anke und Nils.

Haben Angst um ihre Zukunft auf dem Campingplatz (v.l.) André, Anke und Nils. Foto: Knoke

Nils ist erleichtert, weil er bereits auf einer Landers-Fläche mit seiner Hütte steht. Sollte er den Platz dennoch bald verlassen müssen, lebt er einfach in Braunschweig weiter – nicht so wie andere, die kürzlich noch zigtausende Euro in ihre Parzellen gesteckt und keinen anderen Besitz haben. Die drastischen Veränderungen in Prahljust werden ihm täglich schmerzhaft bewusst, wenn er über den Platz spaziert und Schutt von zurückgebauten Häusern, die kahlen Flächen und die Abrissunternehmen sieht, die dort ein- und ausfahren.

Die Redaktion empfiehlt
Weitere Themen aus der Region