Wären Sie lieber 1975 geboren oder heute?
Vor 50 Jahren endete der Vietnamkrieg, an den ein Panzer im Kriegsmuseum in Ho-Chi-Minh-Stadt (früher Saigon) erinnert. War also die Zeit um 1975 besser als heute? Foto: picture alliance/dpa
„Früher war alles besser“ – das denken auch viele junge Menschen heutzutage. Laut einer Ipsos-Studie flüchten viele Menschen in Nostalgie – aber warum?
„Früher war alles viel besser.“ Wer kennt ihn nicht, diesen Ausspruch, mit dem Eltern und Großeltern ihren Kindern und Enkelkindern mächtig auf die Nerven fielen. Ich wähle hier bewusst die verbale Vergangenheitsform, denn inzwischen hat sich die Lage offensichtlich deutlich verändert: Selbst in der Generation der Teens und Twens ist die Meinung inzwischen weit verbreitet, dass früher (fast) alles besser war. Das zumindest ist einer jüngsten Umfrage der Meinungsforscher von Ipsos zu entnehmen.
Ipsos-Umfrage: Die meisten wären lieber 1975 geboren als heute
Das Markt- und Sozialforschungsunternehmen mit Sitz in Paris und Tochtergesellschaft in Deutschland gehört zu den größten weltweit. Und entsprechend international war auch die Umfrage angelegt – mit folgender Fragestellung: Wären Sie lieber 1975 oder 2025 geboren worden? Und tatsächlich wären die meisten befragten Menschen in 29 von 30 Ländern in der Studie lieber vor 50 Jahren geboren worden. Knapp drei Viertel der Befragten waren dabei jünger als 50 Jahre.
Somit beruht die Einschätzung mehrheitlich auch nicht auf persönlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit – sondern basiert bei vielen auf Erfahrung der Gegenwart und einem (verklärten) Bild der Vergangenheit.
Deutschland: Sehnsucht nach alten Zeiten sehr ausgeprägt
In Deutschland ist die Sehnsucht nach vermeintlich guten alten Zeiten besonders deutlich ausgeprägt, wie aus der Umfrage hervorgeht: Nur 14 Prozent der Befragten wären lieber 2025 geboren als 1975. Und selbst in der Generation Z, also Menschen unter 30 Jahren, sprechen sich nur 38 Prozent für das Geburtsjahr 2025 aus.
Die Mehrheit aller Befragten denkt, dass die Menschen vor 50 Jahren glücklicher waren, dass es auf den Straßen sicherer war als heute, dass die Bildung besser war, dass es ein Leben ohne Ängste, Kriege und Konflikte gab – und dass auch der Zustand der Umwelt besser war. Das Fass mit der Bildung möchte ich hier nicht aufmachen. Bei allen anderen Punkten kann ich zumindest aus persönlicher Erfahrung sagen: Das Bild der Vergangenheit trügt.
Bildung, Umwelt, Kriege, Sicherheit: War es früher besser?
Kein Mensch bei frischem Geiste hätte vor 50 Jahren seinen Fuß freiwillig in Elbe oder Rhein gesetzt, geschweige denn in die Ruhr. Ganz im Gegenteil war die Umwelt durch Abwasser, Chemie, Öl und Luftverpestung derart angegriffen, dass just aus jener Epoche eine Umweltbewegung hervorging, die wenige Jahre später beispielsweise in der Parteigründung der Grünen mündete.Nachgedacht
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Mehr Umweltschutz als früher
Ob Badeseen oder Flüsse, die Gewässer sind heute deutlich sauberer als vor 50 Jahren. Industrieunternehmen haben Filteranlagen eingebaut, Produktionsverfahren umgestellt, um die Luftbelastung erheblich zu senken. Autos blasen erheblich weniger Schadstoffe in die Umwelt. In der Landwirtschaft wurde der Einsatz von Pestiziden und Herbiziden deutlich reduziert.
Mehr Sicherheit im Verkehr
Auch in puncto Sicherheit war es im Vergleich vor 50 Jahren nicht rosig. Nehmen wir den Straßenverkehr: 1974 starben allein in Westdeutschland 14.600 Menschen im Straßenverkehr, 2024 waren es in West- und Ostdeutschland zusammen 2780. Es gibt Tempo 30, verkehrsberuhigte Zonen, Fußgängerzonen, Radwege und Schülerlotsen. Und all das, obwohl heute über Sicherheit im Verkehr viel mehr und heftiger diskutiert wird als vor 50 Jahren.
Weniger Mord und Totschlag als früher
Auch bei der Gewaltkriminalität zeigt die Statistik, dass die Welt vor 50 Jahren nicht sicherer war: In der Aufzeichnung des Bundeskriminalamts sind für 1975 allein in Westdeutschland 2908 Fälle von Mord und Totschlag verzeichnet. Die jüngste Statistik von 2024 führt mit 2303 Fällen für West- und Ostdeutschland insgesamt deutlich weniger auf.Besonderer Jahrestag
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Kriege und Konflikte gab es 1975 gleichermaßen zuhauf. In jenem Jahr endete der Vietnamkrieg nach rund 20 Jahren mit zahllosen Opfern und furchtbaren Zerstörungen. Gleich nebenan tobte von 1970 bis 1975 ein grausamer Bürgerkrieg in Kambodscha. Beides war Ausdruck eines internationalen Konflikts der Systeme, in dem sich die USA und die Sowjetunion mit ihren jeweiligen Verbündeten hochgerüstet gegenüberstanden – Kommunismus gegen Kapitalismus.
Auch an anderen Stellen loderten vor und nach 1975 die Konflikte, ob im Nahen Osten, unter dem Regime des Menschenzerstörers Idi Amin in Uganda, unter Militärdiktaturen in Chile und Argentinien oder in den bis heute andauernden kriegerischen Konflikten in Afghanistan.
Was sind die Gründe für „Flucht in Nostalgie“?
Was also sind die Gründe für eine „Flucht in die Nostalgie“, wie die Meinungsforscher von Ipsos nach ihrer Umfrage titeln? Deren Antwort: „Eine Entwicklung, die dem Umfeld geschuldet ist. In unsicheren Zeiten der Polykrise und der damit verbundenen gefühlten Hilflosigkeit sehnt man sich nach Sicherheit, Tradition, nach Bewährtem – und das findet sich eben sehr häufig in einer möglicherweise idealisierten Vergangenheit.“Nachgedacht
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Nostalgie biete Halt in unsicheren Zeiten, doch die zentrale Frage laute: Von welchem „Früher“ ist die Rede – und für wen war es tatsächlich besser? Denn es gibt laut Ipsos „eben auch hier das typische Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, und dem gleichzeitigen Bedürfnis, selbstverständlich nicht auf Komfort, neueste Technik, Entwicklung im Gesundheitswesen oder andere aktuelle Errungenschaften zu verzichten. Heißt: das Lebensgefühl von 1975 verbunden mit den Lebensstandards von heute.“
Sehnsucht nach den vermeintlich guten alten Zeiten
Dabei ist die Nostalgie-Welle, der Wunsch nach einer guten alten Zeit ebenfalls nicht neu. Gerade in Zeiten des Umbruchs zeigt der historische Rückblick ganz ähnliche Entwicklungen. Die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts war mit erheblichen Umwälzungen verbunden. Menschen begehrten auf gegen Kaiser und Könige, während mancher Fürst unterm Firmament der Romantik den Idealen des Mittelalters nachjagte – mit vermeintlich edlem Rittertum und reinen Seelen. Der hessische Landgraf Wilhelm IX. etwa ließ in Kassel ab 1793 die Löwenburg als künstliche Ruine einer Ritterburg errichten, während sich in Frankreich gerade Napoleon rüstete, um ganz Europa mit einem Krieg zu überziehen.
Weitergebracht hat Nostalgie niemals im Leben. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, die Welt dreht sich – und sie ist am Ende auch nie schlechter geworden.
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