Hitlers letzte Karte sticht nicht: Wenck tritt den Rückzug an
Weitere Gemeinsamkeiten: In dieser Pionierschule in Dessau erhalten sowohl Herbert Giesecke als auch Hans-Dietrich Genscher ihre Ausbildung. Das Foto stammt aus dem Jahr 2001. Foto: Privat
Da kann der „Führer“ noch so wütend funken: General Wenck rettet seine Soldaten und Flüchtlinge lieber über die Elbe, als länger Hitlers Durchhaltebefehlen zu folgen. Der Goslarer Autor Dr. Donald Giesecke würdigt das Kriegsende in einer GZ-Serie.
Goslar. Ganz offensichtlich hat es General Walther Wenck verstanden, trotz der Ausweglosigkeit der Gesamtsituation in Anbetracht der nahenden Niederlage, der Zerstörung und der unsicheren Zukunft nicht nur die jungen unerfahrenen Soldaten Hans-Dietrich Genscher sowie die beiden Goslarer Herbert Giesecke und Hellmut Westermannn, sondern auch den kriegserfahrenen Teil seiner Armee von seiner Idee zu überzeugen. Er spricht seine Vorstellungen offen an und bindet so seine ihm unterstellten Soldaten in die Gesamtstrategie ein: Sie wissen, warum und wofür sie sich einsetzen und kämpfen sollen. Seine Ideen, die nicht sein Auftrag sind und im diametralen Gegensatz zur Vorstellung und Erwartung Adolf Hitlers stehen. Es ist so oder so ein Wagnis: Scheitert die Herstellung der Verbindung zur eingeschlossenen 9. Armee, gibt es nur noch den Rückzug mit Verlusten und der Gefahr, in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Gelingt die Rettung der Eingekesselten, gilt es einen geordneten Rückzug einschließlich der vielen Zivilisten zur Elbe und weiter auf die westliche, amerikanisch besetzte Seite zu bewerkstelligen. Wenn beides scheitert, hat sich die eigenmächtige Entscheidung gegen den ursprünglichen Auftrag im Sinne des Ungehorsams und der Befehlsverweigerung höherer, wichtiger einzuschätzender Ziele willen ganz und gar nicht gelohnt bei gleichzeitig sehr wahrscheinlich hohen Verlusten. Aber die Truppe folgt ihm, sehr wohl im Wissen, dass es um Leben und Tod geht.
Hitler schickt Keitel als Aufpasser
Wenck kann jedoch nicht vollkommen eigenmächtig den Auftrag ändern, denn Hitler schickt am 23. April 1945 mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel den ranghöchsten Militär in seiner Funktion als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, um direkt vor Ort Einfluss zu nehmen und alle noch bestehenden Einheiten in Richtung Berlin in Marsch zu setzen. Dabei hat sich die militärische Lage bereits so zugespitzt, dass die vorhandenen Kräfte nicht mehr effektiv Berlin und natürlich die Reichskanzlei verteidigen können – Berlin ist quasi vollkommen von den sowjetischen Truppen umklammert. Neben Wenck beurteilen auch weitere militärische Führer die Befehlslage kritisch und sehen im geordneten Rückzug unter Einbeziehung der Überführung der vielen Flüchtlinge und Verwundeten ihre letzte sinnvolle Aufgabe.

Der Goslarer Hellmut Westermann kämpft in der Armee Wenck. Das Bild aus dem Frühjahr 1945 zeigt ihn mit einem ihm anvertrauten Pferd. Foto: Privat
Ein Funkspruch aus dem „Führer“-Bunker
Daraufhin heißt es im folgenden Wehrmachtbericht, dass die Truppen den Amerikanern den Rücken gekehrt haben, um von außen her den Kampf der Verteidiger von Berlin zu entlasten. „Die vom Westen eingesetzten Divisionen werfen den Feind in erbittertem Ringen auf breiter Front zurück und haben Ferch erreicht.“ Die öffentliche Preisgabe dieser Informationen und einhergehend einer Konzentration der russischen Streitkräfte in diesen Bereich veranlasst Wenck zur klaren Definition des Handelns: Aufnahme der 9. Armee und geordneter Rückzug zur Elbe mit der Intention, Verhandlungen mit den Amerikanern zwecks ehrenvoller Übergabe geschlossener Truppeneinheiten aufzunehmen.
Die Lage in Berlin spitzt sich zu. Am 29. April um 23 Uhr erhält Generalfeldmarschall Alfred Jodl folgenden Funkspruch Hitlers: „1.) Wo Spitze Wenk (sic!)? 2.) Wann tritt er an? 3.) Wo 9. Armee? 4.) Wo Gruppe Holste? 5.) Wann tritt er an?“ Trotz der Antwort, dass die „Fortsetzung der Angriffe auf Berlin daher nicht mehr möglich“ ist, beharrt der Wehrmachtführungsstab auf einer Fortführung des Angriffs bis zur Verbindung der 9. mit der 12. Armee zum Aufbau einer geschlossenen Verteidigungsstellung, um – so glaubt Keitel – „Zeit für politische Verhandlungen gewinnen zu können“. Dieser Befehl zum Durchstoß nach Norden wird vom Armeeoberkommando 12 jedoch nicht befolgt. Damit ist die Lage für Berlin hoffnungslos geworden. Keitel beantwortet Hitlers letzten Hilferuf am 30. April um 1 Uhr: „1.) Spitze Wenck liegt südlich Schwielow-See fest. Starke Sowjetangriffe in gesamter Ostflanke. 2.) 12. Armee kann daher Angriff auf Berlin nicht fortsetzen. 3.) 9. Armee mit Masse eingeschlossen“. Dieser Funkspruch dürfte Auslöser für Hitlers Selbstmord am selben Tage sein.
In keiner Weise mehr kampffähig
Am 1. Mai frühmorgens gelingt der Infanteriedivision „Scharnhorst“ südlich von Beelitz auch die Verbindung zur 9. Armee, die sich in desolatem, völlig erschöpften Zustand befindet und in keiner Weise mehr kampffähig ist. Vielmehr ist die schnellstmögliche Weiterleitung zur westlichen Seite der Elbe anzustreben. General Wenck kommt von seinem Gefechtsstand in Klein Wulkow mit dem Krad und überzeugt sich vor Ort von der Lage. Mit stummem Händedruck begrüßt er General Theodor Busse und sagt nach einer Weile: „Gott sei Dank, dass Sie und Ihre Männer da sind!“ Pionier Hans-Dietrich Genscher sowie die Goslarer Funker Herbert Giese-cke und Fahnenjunker Hellmut Westermann sind im weiteren Umfeld dabei.
Es entwickelt sich eine Rückzugsbewegung, die in Tag- und Nachtmärschen durchgeführt werden muss, über Ferchels im Norden (Division „Hutten“), südlich von Havelberg, über Belzig, Ziesar und Genthin in der Mitte (Division „Scharnhorst“) von Niemegk und Treuenbritzen in Richtung Schönhausen (Division „Körner“) in Richtung Elbe. Eine Vielzahl von weiteren Truppenteilen und Versprengten sammelt sich um Kabelitz am östlichen Ufer der Elbe bei Tangermünde. Wencks Divisionen halten, so gut sie können, den Fluchtkorridor nach Norden, Osten und Süden soweit frei, dass der Zugang zur Tangermünder Elbebrücke möglich bleibt. Die Brücke selbst ist halb zerstört, behelfsmäßig für Fußgänger passierbar. Sie bildet die einzige Möglichkeit, nach Westen auf die amerikanische Seite zu gelangen – von wenigen kleinen Booten abgesehen, die immer mehr auch von russischer Seite beschossen werden. Auf der östlichen Seite verbleiben die Pferde, Nachschubfahrzeuge, Proviant und Waffen, die schnell neue Besitzer finden.
Wenck bestimmt mit General Maximilian Freiherr von Edelsheim einen Parlamentär, der sich – entsprechend gekennzeichnet – am 3. Mai in Begleitung eines Sonderstabes mit einem Schwimmwagen zu den Amerikanern auf das westliche Ufer der Elbe begibt, um mit dem Generalstabschef der 9. US-Armee, General James Edward Moore, die Kapitulationsverhandlungen zu führen. Sichergestellt wird am 4. Mai die Übernahme der Verwundeten und der Soldaten, nicht jedoch die Aufnahme von Flüchtlingen. Deutsche Pionierarbeiten an der lädierten Brücke werden abgelehnt. Als Übergangsstellen für den Fährverkehr werden Schönhausen, Tangermünde und Ferchland festgelegt. Die Taktik Wencks mit seinem Angebot, gegen die Sowjets weiter kämpfen zu wollen, wird vorsichtig und zurückhaltend beantwortet. Diese stillschweigende Duldung eines weiteren Widerstands gegen den Verbündeten Sowjetunion seitens der US-Amerikaner ist formal nicht korrekt und kann der Grund gewesen sein, gewissermaßen als Ausgleich Teile der 12. Armee später an die Sowjets auszuliefern. Täglich überschreiten nun Tausende Soldaten und Flüchtlinge in Behelfskähnen, Booten, Fässern, auf Flößen und über die provisorisch begehbar gemachte Brücke die Elbe. Erschwert wird die Situation, als am 5. Mai von US-amerikanischer Seite verfügt wird, keine Zivilisten mehr passieren zu lassen.
Unter russischem Beschuss im letzten Boot
Wenck beschließt, bei Nacht und Nebel unter Zurücklassen des Gepäcks dennoch die Flucht der Zivilisten nach Westen zu organisieren. Unbeabsichtigt hilft der Beschuss durch näherrückende russische Einheiten. Denn die in den Schussbereich geratenden US-Amerikaner auf der westlichen Seite ziehen sich zurück und ermöglichen dadurch den Übergang der Flüchtlinge. Wenck selbst besteigt kurz nach den letzten deutschen Truppen am 7. Mai um 17.10 Uhr bei Ferchland in Begleitung seines Chefs des Generalstabes, Oberst i.G. Günther Reichhelm, zwei Ordonnanzoffizieren und einigen Soldaten des Stabes ein letztes Boot – unter Beschuss der russischen Soldaten vom östlichen Elbufer auf die westliche Seite.
Bevor er sich jedoch zu den amerikanischen Truppen begibt, geht der erschöpfte und von den aufregenden Wochen gezeichnete General Wenck auf die Soldaten und Zivilisten zu, die in einer Wiese lagern. Ein alter Stabsgefreiter springt auf die Füße und kommt ihm ein paar Schritte entgegen: „Herr General“, beginnt er, „wir können Ihre Empfindungen verstehen. Wir haben Berlin zwar nicht entsetzen können. Aber das drüben … dass wir diese Menschen retten können … dafür hat sich unser Einsatz doch gelohnt.“ Der General reicht dem Landser die Hand und geht mit ihm gemeinsam zu den amerikanischen Soldaten in Gefangenschaft.
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