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Interview mit Goslarer Zeitzeugen

GZ Plus IconWalter Levy (103): „Wie verhindert ihr, dass es wieder passiert?“

Person im Rollstuhl und sitzende Person auf einer Holzbank in einem Raum mit grauer Ziegelwand und blauer Wand.

Walter Levy im Interview mit Autor Stefan Cramer im „Holocaust and Human Rights Museum“ in Dallas, das er mit aufgebaut hat. Das Foto macht seine Tochter Julie Robinowitz. Foto: Robinowitz

Wider das Vergessen: Der 103-jährige jüdische Goslarer Zeitzeuge Walter Levy lebt in Dallas/Texas. Für seine alte Heimat hat er Erinnerungen, Fragen und Mahnungen parat.

Von Dr. Stefan Cramer Samstag, 13.12.2025, 16:00 Uhr

Dallas/Goslar. Für mich ist es ein seltenes Privileg, einem 103-jährigen Mann gegenüberzusitzen, der als Kind und Jugendlicher Goslar erlebt und bis heute lebendige Erinnerungen an unsere Stadt bewahrt hat. Wolfgang Julius Levy, 1922 in Berlin geboren, entkam als Jugendlicher mit seiner Familie der Verfolgung durch das NS-Regime.

Heute lebt er in Dallas, Texas. Schnell nannte er sich in Walter J. Levy um, denn dies war für seine neuen amerikanischen Freunde leichter auszusprechen. Nach unserem ersten Besuch im Jahr 2023, bei dem meine Frau Erika und ich einen kleinen Dokumentarfilm über Walter Levy erstellten, konnte ich ihn nun erneut treffen – in seiner Seniorenresidenz im Norden der Stadt, ganz in der Nähe eines Teils seiner großen Familie.

Letzter lebender Zeitzeuge

Walter Levy ist mit großer Wahrscheinlichkeit der letzte lebende Zeitzeuge, der Goslar vor dem Zweiten Weltkrieg aus eigener Erfahrung kennt. Seine Großeltern, Julius und Luise Levy, seine Onkel Dagobert und Georg, sowie die familiäre Firma in der Schulstraße sind Teil der jüdischen Geschichte Goslars – und ihrer Zerstörung durch den Nationalsozialismus.

Trotz seines hohen Alters ist der alte Herr geistig wach, charmant und humorvoll. „Ich erinnere mich an Dinge, die ich längst hätte vergessen sollen“, sagt er lächelnd – und zählt Goslars Straßen auf: Rammelsberger Straße, Schulstraße, Kornstraße, das Rathaus, den Bahnhof. Doch zunächst erzählt Walter Levy mit warmem Lächeln aus glücklicheren Tagen: Von Spaziergängen mit seinem Großvater Julius Levy, der ihn zum Lachen brachte, indem er mit einem Fuß auf dem Bordstein und dem anderen auf der Straße entlang hinkte. „Ich war vier oder fünf – ich fand das urkomisch“, sagt er und lacht. Für einen Moment sitzt kein alter Mann vor mir, sondern ein Kind im Sonntagsanzug, das sich geborgen fühlt.

Walter Levy ist 103 Jahre alt

Ein Zeitzeuge erzählt aus der Kriegszeit.

Steine auf die Gräber der Großeltern

Auch seine Großmutter Luise beschreibt er voller Zuneigung. Er spricht vom Jüdischen Friedhof und bittet die Jugendlichen in Goslar in einer bewegenden, auf Englisch gehaltenen Video-Botschaft darum, Steine auf die Gräber seiner Großeltern zu legen – als Gedenken an die Familie, die einst Teil dieser Stadt war. Als wir über seine Jugend sprechen, wird sein Blick ernster. Walter berichtet von den frühen 1930er Jahren, vom Ausschluss aus dem Königsberger Gymnasium: Mitschüler spuckten ihn an, beschimpften ihn, warfen mit Dingen nach ihm. „Ich war ein Teenager – genau wie ihr“, berichtet er an die Schüler der Okeraner Adolf-Grimme-Gesamtschule gerichtet. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das mit mir gemacht hat“, sagt er.

Kein Schutz für jüdischen Schüler

Der Schulleiter ließ den Eltern ausrichten, er könne den jüdischen Schüler „nicht mehr schützen“. „Für einen Teenager, genau in eurem Alter“, wie er mehrfach betont, sei das traumatisch gewesen – und der Moment, in dem seinen Eltern klar wurde: Sie müssen Deutschland verlassen. In seiner Video-Botschaft richtet er sich besonders an die Schülergruppe der Adolf-Grimme-Gesamtschule, die sich im Rahmen der Stolperstein-Verlegung für Walters Onkel und Tante mit dem Schicksal der Familie Levy befassten.

1938 siedelte die Familie nach Amerika über. Seine Familie fand hier schnell eine neue Heimat. Doch viele aus der Familie hatten nicht dieses Glück. Sein Onkel Dagobert und dessen Frau Margarete, die eine Mischehe führten, wurden verfolgt, enteignet, verschleppt. Dagobert überlebte Theresienstadt, starb aber Jahrzehnte später gebrochen in München. Die Lebensgeschichte dieses Ehepaars, einst erfolgreiche Unternehmer in der Goslarer Innenstadt, ist in einem früheren Artikel ausführlich dokumentiert.

Glaube an die Zukunft

Warum lebt ein 103-Jähriger noch mit diesen Erinnerungen? Walter Levy glaubt an die Zukunft. In unserem Gespräch richtet er sich direkt an die junge Generation, insbesondere an die Stolperstein-AG der Adolf-Grimme-Gesamtschule: „Ihr seid junge Leute. Ihr könnt Fragen stellen. Ihr könnt herausfinden, was passiert ist. Wir sind jetzt abhängig von euch.“ Er richtet seinen Blick nach vorn – auf das, was wir aus ihr machen. Im Gespräch blickt er bewusst in die Kamera, spricht nicht zu mir, sondern zu den jungen Menschen in Goslar: „Ihr seid diejenigen, die weiterfragen müssen. Was ist mit den jüdischen Familien in Goslar passiert? Wer war für das Leid verantwortlich? Und wie verhindert ihr, dass es wieder passiert?“ Diese direkte, fast kämpferische Hoffnung wirkt angesichts seines Alters umso beeindruckender. Seine Tochter Julie, die fürsorglich neben ihm sitzt, bestätigt: „Es bedeutet ihm viel zu wissen, dass Menschen in Goslar sich erinnern – und verstehen wollen.“ Und Walter Levy fügt hinzu: „Lasst nicht zu, dass Hass und Stigmatisierung wieder Platz greifen. Lernt aus dem, was uns geschehen ist.“

Keine Kraft mehr für lange Wege

Am Ende unseres Gesprächs sagt Walter Levy langsam und nachdrücklich: „Ich werde nicht mehr reisen. Mein Leben findet hier statt. Aber mein Herz – das hat immer noch einen Platz in Goslar.“ Er hat keine Kraft mehr für lange Wege. Seine Erinnerungen aber haben weite Reisewege hinter sich – bis zurück in unsere Stadt. Sie sind ein Geschenk. Und eine Aufgabe. Denn die Generation, die noch sagen kann „Ich war dabei“, verstummt. Die Verantwortung zur Erinnerung liegt nun bei uns.

Autor Stefan Cramer ist der Neffe von Hans Donald Cramer. Dieser hatte 1986 nicht nur das Buch „Das Schicksal der Goslarer Juden 1933-45“ veröffentlicht, sondern auch seine Unterlagen in Buchform gebunden hinterlassen. Sein Neffe nutzte es unter anderem, um für die Initiative Stolpersteine im Verein Spurensuche Harzregion vorzuarbeiten. Zusammen mit Dr. Kurt Fontheim erinnert er zudem an Goslarer Euthanasie-Opfer.

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