Paul Lincke, Lili Marleen und die Geschichte(n) eines Musikpreises
Paul Lincke bleibt im Ortsbild mindestens mit Büste und nach ihm benannten Platz in der Fußgängerzone präsent. Foto: Sowa
Goldener Ton statt Paul-Lincke-Ring: Die GZ fasst zusammen, warum der in Hahnenklee verliehene Musikpreis jetzt anders heißt. Es geht unter anderem um Nazi-Nähe, Durchhaltekomponisten und Schweizer Armeemusiker.
Goslar. Paul Lincke war gestern, der Goldene Ton ist Gegenwart und Zukunft: Der in Hahnenklee zu vergebende Goslarer Musikpreis feiert am Samstag seine Namenspremiere, wenn der Berliner Musiker Sven Regener sich den Ring für das Jahr 2024 abholt – übrigens in dem weiterhin nach Paul Lincke benannten Festsaal des Kurhauses.
Nein, die lange, intensive und kontroverse Debatte um Linckes Rolle im „Dritten Reich“ und seine Nähe zu Nazi-Größen soll nicht noch einmal in allen Details nachgeholt werden. Ein kleiner Rückblick mit Ausblick sei dennoch erlaubt, weil sich Goslarer Verantwortliche ihre Entscheidung in der Tat nicht leicht gemacht haben, als sie vom Berliner Operetten-König als Namensgeber in einem über Monate währenden Prozess Abschied nahmen und nun hoffen, dass der undotierte Preis seine Strahlkraft trotzdem behält – allein schon deshalb, weil ihn inzwischen so viele so bekannte Musiker angenommen haben.
PR-Coup des Kurdirektors
Denn was außer Lincke prädestiniert Hahnenklee für einen Musikpreis? Zur Ehrlichkeit gehört dazu: Lincke ist nach nur wenigen Wochen Zwangsaufenthalt 1946 im Oberharz gestorben. Er wäre lieber ganz woanders gewesen und war eigentlich auch schon wieder auf dem Absprung. Dem PR-Genie des damaligen Kurdirektors Hermann Jacobs ist es zu verdanken, dass der Kurort sich jahrzehntelang mit Linckes Ring und berühmten Musikern schmücken konnte. Frei nach dem Motto: Wenn er schon hier begraben liegt, kann er auch noch was für den Ort tun.
„Aber es widert einen an“
Sven Regener, der jetzt den Goldenen Ton erhält, schaute offenkundig erstmals näher hin. Und wollte nicht (mehr) mit Linckes Namen geehrt werden. „Ein guter Freund der Familie Goebbels? Ein Marsch für die Hitler-Jungen geschrieben? Das reicht ja wohl, um einen solchen Preis nicht zu wollen“, sagte er im April im Interview. „Ich hatte eigentlich gedacht, dass er zur Nazi-Zeit schon tot gewesen wäre – ein Irrtum“, gestand er ein. Es gehe aber auch nicht darum, noch einmal über jemanden zu Gericht zu sitzen. „Aber es widert einen an, und dann will man so einen Preis nicht“, sagte Regener. Dessen neuen Namen findet er übrigens gelungen.
Ein Bild aus dem Bundesarchiv, das Historiker Schmiechen-Ackermann nach Hahnenklee mitgebracht hatte (v.r.): Paul Lincke lässt sich zu seinem 75. Geburtstag von Nazi-Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels mit einem Ehren-Taktstock aus Elfenbein beschenken. Foto: Heine (Archiv)
Goebbels macht Geschenke
An seinem 70. Geburtstag macht Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann die Aufnahmen. Zum 75. Geburtstag schenkt Goebbels dem „Volkskomponisten“ einen kunstvollen Taktstock und veranlasst eine üppige Ehrengabe der Stadt Berlin. Schmiechen-Ackermann führt hemmungslose Homestorys mit Hitler-Bildern an der Wand („Aushängeschild und Sprachrohr für die Nazis“) ebenso an wie das Fehlen einer Positionierung zum Judentum. Brauner Druck auf Lincke? Nein, er sei einer der ersten gewesen, der sich gemeldet habe: „Den musste keiner drängen.“ Und die Juden? Lincke sei kein Antisemit, er äußere sich aber emotionslos und distanziert.
„Die Juden sind jetzt auch alle weg“
Und zwar auch das seines früher engen Freundes Siegfried Translateur. Lincke hatte laut Schmiechen-Ackermann mit dessen Familie vor 1933 Weihnachten und Geburtstage gefeiert. Sie hatten beide einen Musikverlag. Sie haben beide komponiert. Sie haben zum Teil gegenseitig Stücke voneinander verlegt. Nach 1933 findet sich keine Spur mehr davon. Es geht demnach in dieselbe Richtung, wenn Lincke 1938 aus Dresden, wo er einen Kuraufenthalt hat, an Editha Stolzenberg schreibt: „Hier ist alles normal. Die Juden sind jetzt auch alle weg.“ Und das betrifft eben auch seinen Skatpartner, der auf einmal verschwunden ist.
„Schicksal der Juden war ihm egal“
Schmiechen-Ackermann führt im GZ-Interview aus: „Er fragt nicht weiter, er hält das nur, wie ich finde, sehr mitleidslos, sehr nüchtern fest. Und im nächsten Satz kommt dann, dass er mit der Ehefrau von Joseph Goebbels am nächsten Tag Skat spielen will.“ Anders als bei Musiker-Kollegen wie Furtwängler oder Strauß, die beide immer wieder mal versucht hätten, sich für jüdische Kollegen einzusetzen, finde man bei Paul Lincke überhaupt nichts: „Insofern glaube ich nicht, dass er Antisemit war. Aber ich glaube, das Schicksal der Juden war ihm einfach komplett egal.“
Norbert Schultze Foto: picture-alliance / dpa
Musik zum Durchhalten im Krieg
Wer bekam überhaupt die ersten Preise? In einem Beitrag für den Kulturteil der „Welt“ wies Feuilleton-Mitarbeiter Manuel Brug darauf hin, dass mit dem Lincke-Ring „bis 1977 auch die Crème deutscher Durchhalteschlagerkomponisten von Gerhard Winkler bis Franz Grothe und Norbert Schultze ausgezeichnet“ worden seien. Der gebürtige Braunschweiger Norbert Schultze, der den Lincke-Ring 1973 erhielt, schrieb beispielsweise nicht nur den Welthit „Lili Marleen“, den Evergreen „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“ oder Trippel-Trappel-Pony-Lieder zu den Filmen um die Immenhof-Mädels, sondern auch jede Menge Kampf- und Soldatenlieder. Eine Auswahl: „Panzer rollen in Afrika“, „Bomben auf Engeland“ oder „Von Finnland bis zum Schwarzen Meer“, in dessen Refrain die Zeile „Führer, befiehl, wir folgen dir“ vorkommt. Im Juni 1940 tritt er in die NSDAP ein. Er komponiert die Musik zum Euthanasiefilm „Ich klage an“ und zu Veit Harlans Durchhaltestreifen „Kolberg“.
Tantiemen fließen ans DRK
Schultze machte nach dem Krieg weiter Karriere. 1961 wurde er zum Präsidenten des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller und -komponisten gewählt, von 1973 bis 1991 war er Vorstandsmitglied im Deutschen Komponistenverband. Obwohl er zunächst auf einer Schwarzen Liste der Amerikaner stand, wurde er während der Entnazifizierung als Mitläufer eingestuft und erhielt eine sofortige Arbeitserlaubnis. Gegenüber der „Braunschweiger Zeitung“ erklärte er Jahrzehnte später: „Wissen Sie, ich war damals im besten Soldatenalter. So um die 30. Für mich war die Alternative: komponieren oder krepieren. Da habe ich mich für das Erstere entschieden.“ Quälte ihn dennoch sein Gewissen? Der 2002 gestorbene Schultze verfügte testamentarisch, dass sämtliche Tantiemen seiner von 1933 bis 1945 entstandenen Werke dem Deutschen Roten Kreuz zugutekommen.
Lale Andersen Foto: picture-alliance / dpa
„Eklat“ in der Schweiz
Apropos „Lili Marleen“: Erst im August gab es laut der Schweizer Boulevard-Zeitung „Blick“ einen „Eklat in Militärmusik“. Ein Armeemusiker weigerte sich bei zwei Konzerten in Riedholz, das Soldatenlied zu spielen. Nachdem er wenige Tage vor dem Auftritt die Noten erhalten hatte, habe er auf dem Heimweg von der Probe den Namen des Komponisten gegoogelt – und sei erschrocken.
Vom Ladenhüter zum Bestseller
„Lili Marleen“ hatte Komponist Schultze übrigens schon 1938 zusammen mit Lale Andersen in Berlin aufgenommen. Der Erfolg war zunächst mäßig. Nach einem NDR-Bericht wurden nur 700 Schallplatten verkauft. Ein Jahr später wurde das Lied neu abgemischt – mit Orchester sowie einem Soldatenchor im Hintergrund und dezentem Marschrhythmus. 1941 kam für das „schwer verkäufliche Produkt“ die Wende. Als dem Leiter des deutschen Besatzungssenders in Belgrad die Musik ausgeht, zaubert ein Unteroffizier aus dem Hut. „Lili Marleen“ läuft jeden Abend um kurz vor zehn Uhr und beendet das Programm des Senders. Das Stück wird der erste Millionen-Seller der deutschen Schallplattengeschichte.
Andersen fällt in Ungnade
Im September 1942 verstummt „Lili Marleen“ plötzlich. Lale Andersen fällt bei den Nazis in Ungnade. Sie fangen Briefe von ihr an Schweizer Juden ab. Einer Einweisung ins Konzentrationslager entkommt sie knapp. Weil die BBC ihre angebliche Verhaftung meldet, dementieren die braunen Machthaber. Die Sängerin bekommt Auftrittsverbot und neun Monate Hausarrest.
Rudolf Nelson ist 1959 als dritter Preisträger eine absolute Unbelasteten-Ausnahme in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten des Paul-Lincke-Rings. Foto: Archiv Ahrens
Kurz zurück nach Hahnenklee und dem Paul-Lincke-Ring: Erst mit Udo Jürgens tritt ab 1981 eine neue Ring-Generation an. Vorher ist der aus dem Exil zurückgekehrte Rudolf Nelson 1959 als dritter Preisträger eine absolute Unbelasteten-Ausnahme.
Copyright © 2025 Goslarsche Zeitung | Weiterverwendung und -verbreitung nur mit Genehmigung.