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Schicksale in der NS-Zeit

GZ Plus IconInitiative setzt in Goslar sieben neue Stolpersteine zum Gedenken

Angekommen bei der ehemaligen Adresse von Auguste Müller im Worthsatenwinkel 1, die Opfer der „Euthanasie“ wurde. Am Cello: Francis Julien Lahmer.

Angekommen bei der ehemaligen Adresse von Auguste Müller im Worthsatenwinkel 1, die Opfer der „Euthanasie“ wurde. Am Cello: Francis Julien Lahmer. Foto: Epping

Der Verein „Spurensuche Harzregion“ hat sieben neue „Stolpersteine“ in den Boden der Goslarer Altstadt eingelassen. Die Messingquader erinnern an Menschen, die in der NS-Zeit mitten in der Stadtgesellschaft Opfer der Willkür und des Terrors wurden.

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Von Sabine Kempfer
Freitag, 27.06.2025, 04:00 Uhr

Goslar. Rundgänge wie der von Stolperstein zu Stolperstein, materialisierte Erinnerungen an Menschen, die unter dem Nazi-Regime litten, machen demütig. Wie war es möglich, dass Bürger in der Mitte einer Stadtgesellschaft von anderen Bürgern ausgegrenzt, körperlich und/oder seelisch grausam misshandelt und zum Teil getötet wurden? Kein anonymes „Regime“ hat das zu verantworten, dahinter stehen Nachbarn, die weggesehen haben, Freunde, die sich abgewandt haben, Arbeitgeber, die gut arbeitenden Angestellten die Lebensgrundlage entzogen haben.

„Ausgrenzung, Antisemitismus und Rassismus gibt es auch heute noch. Und sie fangen nicht mit Gewalt an. Sie fangen an mit Worten, mit Witzen, mit Wegsehen und Schweigen“, sagte Aliyah Bittaye aus der AG Nationalsozialismus der Adolf-Grimme-Gesamtschule (AGG) in Oker. Die Schülerinnen und Schüler der AG begleiteten die Einlassung von sieben neuen Stolpersteinen des Vereins Spurensuche Harzregion und der Stadt Goslar am Mittwoch in der Goslarer Altstadt. Den Anfang machte das Erinnern an den Goslarer Schuster Josef Schacker (die GZ berichtete), der das Naziregime zwar 20 Jahre überlebte, der aber nie eine Entschädigung für erlittenes Leid erhalten hatte. Er hatte seine Werkstatt in der Breiten Straße 58. Ayamuddin Stanikzai aus Afghanistan sagte hier abschließend, wie wichtig es sei, sich zu erinnern: „Nicht, weil wir Schuld haben – sondern weil wir Verantwortung haben. Für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft, Religion, Sexualität oder Behinderung – sicher und frei leben kann. Ohne Angst. Ohne Hass.“ Worte, die ihre Wirkung bei der großen Gruppe der Mitwandernden nicht verfehlten.

Kein Leben für Ingeburg

Es gibt Orte, die sieht man jeden Tag. Und nach der Verlegung eines Stolpersteins, mit neuem Wissen, sieht man sie plötzlich – und vielleicht für sehr lange Zeit – mit anderen Augen. Ein solcher Ort ist die Einfahrt zur Tiefgarage in der Wohldenbergerstraße 20, direkt gegenüber der GZ. Der Stolperstein, der an ein Mädchen erinnert, das dort einmal gelebt hat, wurde wegen der Einfahrt zur Tiefgarage, die laut Stefan Cramer damals dort noch nicht war, im Einvernehmen ein wenig nach rechts vor den Hauseingang gesetzt. In der Hausnummer 20 lebte Ingeburg Böglen, und von ihr gibt es im Gegensatz zu den anderen Menschen, an die erinnert wird, nur eine Kinderzeichnung. Aliyah Bittaye, Maik Klehr, Lea-Marie Minola und Noah Wolf erinnerten an das Mädchen, das 1930 zur Welt kam, in der Jakobi-Kirche getauft und Opfer der „Euthanasie“ wurde. Die alleinerziehende Mutter war mit der Versorgung ihrer Kinder überfordert. Ingeburg war geistig beeinträchtigt und besuchte die Hilfsschule, Heimaufenthalte folgten; das Jugendamt der Stadt Goslar entzog der Mutter das Sorgerecht, wurde Vormund. Das Gesundheitsamt beschrieb Ingeburg als „hochgradig schwachsinnig“ – in dieser Zeit war das ihr Todesurteil. Sie wurde Teil der „dezentralen Euthanasie“.

Wo rechts die Einfahrt zur Tiefgarage ist, war früher der Eingang zum Haus Wohldenbergerstraße 20 – dort wohnte Ingeburg Boeglen, die geistig eingeschränkt war und im Alter von 13 Jahren vorsätzlich zugrunde gerichtet wurde.

Wo rechts die Einfahrt zur Tiefgarage ist, war früher der Eingang zum Haus Wohldenbergerstraße 20 – dort wohnte Ingeburg Boeglen, die geistig eingeschränkt war und im Alter von 13 Jahren vorsätzlich zugrunde gerichtet wurde. Foto: Kempfer

„Ingeburg Böglen wurde am 15. April 1944 im Alter von nur 13 Jahren Opfer dieses ,Patientenmordprogrammes’“, trug Aliyah vor. Viele Kinder wurden damals in psychiatrischen Anstalten gezielt getötet: durch Medikamente, absichtliche Vernachlässigung oder Nahrungsentzug“, hatten die Schüler recherchiert. Die Mutter äußerte Zweifel an den Umständen des Todes ihrer Tochter, die angeblich an einer Lungenentzündung gestorben sein sollte – die ganze Wahrheit erfuhr sie nie. Die verantwortliche Ärztin habe 1953 vor dem Schwurgericht Göttingen die Tötung von mindestens 60 Kindern und 30 Frauen durch Medikamentenüberdosierungen gestanden; sie erhielt eine Bewährungsstrafe und praktizierte weitere 30 Jahren als Ärztin in Braunschweig. „Ingeburg Böglen hingegen bekam weder ein Leben noch Gerechtigkeit“, sagte Maik Klehr. „Hatte sie Pläne für ein Leben nach der Schule?“, fragte Johnny Wagner von der Lebenshilfe Goslar. Einem Verein, den es gebe, „damit Kinder wie Ingeburg ein Leben führen können, wie ihr es führt“, sagte er zu den Schülern. Noch gegen Abend lagen weiße Rosen neben der Kinderzeichnung und dem Stolperstein für das Mädchen aus der Wohldenbergerstraße 20.

Die strahlende Sonne an diesem heiteren Frühsommertag schien im Kontrast zur Schwere der Schicksale zu stehen, an die die von Stein zu Stein Flanierenden an diesem Tag spazierten. Ein Unterfangen, zu dessen Würde auch Matthias Klink und Michél Topfmeier vom Betriebshof beitrugen, die jeden Stolperstein vorsichtig von Hand verfugten und mit dem Lappen blank putzten. Die niedergelegten weißen Rosen erinnerten an das Symbol für den studentisch-bürgerlichen Widerstand gegen das NS-Regime innerhalb Deutschlands. Der Weg war noch lang, den die Gruppe zurückzulegen hatte, bevor das Ziel, der Stolperstein für Hermann Kassebaum in der Von-Garßen-Straße 6, erreicht war.

In der Von-Garßen-Straße 6 ergreift Dr. Donald Giesecke (links) vom Verein ehemaliger Ratsgymnasiasten das Wort zum Gedenken an Hermann Kassebaum.

In der Von-Garßen-Straße 6 ergreift Dr. Donald Giesecke (links) vom Verein ehemaliger Ratsgymnasiasten das Wort zum Gedenken an Hermann Kassebaum. Foto: Epping

An den Rechtsstaat geglaubt

Gleich zwei Stolpersteine wurden in der Petersilienstraße verlegt, wo Anna König aus der Hausnummer 13 Opfer der „Euthanasie“ wurde; sie hatte im Laufe ihres Lebens psychische Probleme bekommen.
Zum Gedenken an Friedrich Ostheeren wird noch einmal der Stolperstein geputzt. Hinten in der Mitte: Sabine Rehse, Lehrerin an der Adolf-Grimme-Gesamtschule und Mitglied der Initiative Stolpersteine Goslar.

Zum Gedenken an Friedrich Ostheeren wird noch einmal der Stolperstein geputzt. Hinten in der Mitte: Sabine Rehse, Lehrerin an der Adolf-Grimme-Gesamtschule und Mitglied der Initiative Stolpersteine Goslar. Foto: Kempfer

In der Hausnummer 17 wohnte Friedrich Ostheeren, er war Polizeioberinspektor und wurde „Opfer aus politischen Gründen“; Leonie Machner, Emily Berger, Jonah Diekmeier und Kilian Habath erinnerten an das Schicksal eines Mannes, der verfolgt und schwer misshandelt wurde, weil er bis zuletzt an den Rechtsstaat glaubte und sich der Willkür des Nationalsozialismus widersetzte. Ein Mann mit Haltung, der bettlägerig geschlagen wurde und später an den Folgen der Misshandlung starb. Seine Witwe wurde 1946 als Hinterbliebene eines Opfers des Faschismus anerkannt.

Bekenntnis zur Demokratie

Die junge Polizeikommissarin Tamara Tita, die gemeinsam mit dem Leiter der Polizeiinspektion Goslar, Rodger Kerst, Rosen an Ostheerens Stolperstein niederlegte, beeindruckte mit ihrer Rede an diesem Ort. Für die Polizeiangehörigen sei die Beteiligung an der Stolpersteinsetzung „von großer Bedeutung“, sagte Tita. „Wir würdigen damit die Courage eines ehemaligen Kollegen, entreißen sein Handeln dem Vergessen und setzen ein mahnendes Zeichen für den Erhalt unserer Demokratie heute.“ Tita führte aus, dass die Demokratiearbeit bei der Polizei Niedersachsen einen großen Stellenwert habe. Die Betreuung des Stolpersteins sei der Polizeiinspektion eine Ehre, „aber auch ein Zeichen des Hinschauens und des Willens, antidemokratische Verhaltensweisen in der Polizei nicht zu dulden oder hinzunehmen“.
Polizeikommissarin Tamara Tita (links) betont am Wohnhaus des ehemaligen Polizeioberinspektors Friedrich Ostheeren in der Petersilienstraße den Wert der Demokratiearbeit bei der Polizei. Recht im Bild: der Leiter der Polizeiinspektion Goslar, Rodger Kerst.

Polizeikommissarin Tamara Tita (links) betont am Wohnhaus des ehemaligen Polizeioberinspektors Friedrich Ostheeren in der Petersilienstraße den Wert der Demokratiearbeit bei der Polizei. Recht im Bild: der Leiter der Polizeiinspektion Goslar, Rodger Kerst. Foto: Kempfer

Neue Stolpersteine gibt es seit Mittwoch außerdem vor dem ehemaligen katholischen Gemeindehaus in der Zehntstraße 18, wo Kaplan Johannes Jäger wohnte; vor dem Haus Worthsatenwinkel 1, vor dem ein Stolperstein an Auguste Müller erinnert und in der Von-Garßen-Straße 6, wo Hermann Kassebaum lebte. Auch ihre Geschichten wurden bereits in der GZ veröffentlicht. Weitere Stolpersteine werden wohl folgen, denn die Recherchen des Vereins Spurensuche und der Initiative Stolpersteine mit ihren engagierten Initiatoren und Mitgliedern enden an dieser Stelle ebenso wenig wie die Aufarbeitung der Geschichte durch Schüler und Lehrer der AGG.
Am Abend rahmten die weißen Rosen noch immer den Stolperstein für Kaplan Johannes Jäger in der Zehntstraße 18 ein.

Am Abend rahmten die weißen Rosen noch immer den Stolperstein für Kaplan Johannes Jäger in der Zehntstraße 18 ein. Foto: Kempfer

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