Verkaufen, um zu bleiben: Seesens Berufsschule hat wieder Zukunft

In die Jahre gekommen: Schon die Schrift auf dem BBS-Schild zeigt, dass am Seesener Standort momentan der Lack (noch) ab ist. Foto: Heinemann
Das Votum der Goslarer Kreispolitik fällt einstimmig aus: Seesen soll seine Berufsschule behalten, die Zweiradmechatroniker müssen nicht umziehen. Ganz so einfach ist die Lösung mit Gebäudeverkauf und Rückmieten von Räumen aber dann doch nicht.
Seesen/Goslar. Der Berufsschulstandort Seesen soll erhalten bleiben, aber der Landkreis Goslar will nicht mehr Eigentümer der sanierungsbedürftigen und nur noch gering ausgelasteten Immobilie an der Hochstraße sein. In einer Art „Sale and Lease Back“-Verfahren soll der Komplex in einem zweistufigen Verfahren verkauft und später ein Teil der Fläche für die Ausbildung der Zweiradmechatroniker angemietet werden.
Für dieses Vorgehen gab der Landkreis-Ausschuss für Bildung, Kultur und Sport am späten Mittwochnachmittag in der Clausthal-Zellerfelder Akademie des Sports ein einstimmiges Votum ab. Nur Geschäftsführerin Anja Mertelsmann vom Allgemeinen Arbeitgeberverband Harz enthielt sich ihrer Stimme. Die jetzt favorisierte Variante, über die der Kreistag abschließend am 6. Oktober abstimmt, ist nämlich keinesfalls die günstigste Lösung. Die Kreisverwaltung selbst hatte wie berichtet bis März einen Wechsel des Ausbildungsstandortes nach Goslar ins Berufsförderungswerk der „INN-tegrativ GmbH“ vorgeschlagen, zumal auch Direktor Otto Markus Brinkmann als Leiter der Berufsbildenden Schulen Goslar-Baßgeige/Seesen aus Gründen des Personaleinsatzes Sympathie für eine weniger weit entfernte Satelliten-Lösung formuliert hatte.
Dickes Lob für die Verwalter
Die Politik will es in diesem Fall aber anders und ist sich in Lob für Variante und Verwaltungshandeln so einig wie selten. Von den Linken bis hin zur AfD prasselten anerkennende Worte auf die Kreisverwalter ein. Ausschussvorsitzende Renate Lucksch (SPD) sprach eingangs von einem „Prozess auf Augenhöhe“ und der „besten Lösung“ für die Beteiligten. Christiane Raczek zog zunächst folgerichtig einen CDU-Änderungsantrag zur ursprünglichen Fassung zurück („der hat sich positiv erledigt“) und zollte nicht nur den Dank der Christdemokraten, sondern parteiübergreifend auch gleich jenen der Seesener Kommunalpolitik mit. Eine „supergute Vorlage“ nannte die Linke Peggy Plettner-Voigt das Papier und erachtete es als wichtig, dass die Kreispolitik den gesamten Landkreis im Blick behalte. Selbst Oliver Hachmeister fühlte sich für die AfD anders als sonst oft „super mit Infos versorgt“ und war sehr zufrieden.
Für die politisch gebauchpinselte Verwaltung ergriff Michael Conzen das Wort. „Wir haben viele Impulse bekommen, etwa vom Innungsleiter“, sagte der Fachbereichsleiter für Bildung und Kultur. Jetzt müssten alle ehrlich miteinander sein: „Wir müssen sehen, was passiert. Aber wir denken, es kann funktionieren.“ Passgenau, dass die Seesener SPD einen Abend vorher für den Erhalt des Standortes in der Sehusa-Stadt votiert und Conzen wie berichtet zu ihrem Bürgermeisterkandidaten für die Wahl am 13. September gemacht hatte.
Kein direkter Verkauf erlaubt
Was passiert jetzt? Nach intensivem Austausch mit Innenministerium als Kontrollbehörde startet der Landkreis nach der Beschlussfassung im Kreistag zunächst eine Interessenbekundung, bevor Grundstück und Immobilie verkauft werden können. Eine Veräußerung schon zum Jahresende an einen ortsbekannten Interessenten ohne eine Sondierung des Marktes überschreitet demnach vergaberechtliche Grenzen. Im Frühjahr hatten sich die Bauunternehmer Oliver Göcke aus Seesen und Dirk Barte aus Königsdahlum als gemeinsame potenzielle Investoren vorgestellt. „Die Kalkulation ist so, dass man es kaufen kann und auch noch eine Rendite herausspringt“, hatte Göcke in der März-Ausschusssitzung erklärt.
In Zahlen heißt das: Als Verkehrswert der Liegenschaft mit Grundstück und Gebäude sind knapp 1,1 Millionen Euro aufgerufen. Der Landkreis will für 9,99 Euro Netto-Kaltmiete pro Quadratmeter benötigte Flächen anmieten. Als Jahreskaltmiete sind 155.844 Euro ausgerechnet. Die Gesamtnebenkosten belaufen sich bei dieser Variante auf 5980 Euro pro Monat, sodass die Netto-Miete warm und sauber bei 14,59 Quadratmetern liegt. Die Mindestlaufzeit für einen Mietvertrag beträgt 20 Jahre. Bei diesem Modell kann die Sanierung abschnittsweise ohne Provisorien erfolgen. Auf 1300 Quadratmeter Mietfläche kämen im Osttrakt weiterhin die Zweiradmechatroniker sowie andere Nutzer wie Bäckereifachverkäuferinnen und die Berufseinstiegsklasse Sprache und Integration unter. Weitere oder veränderte Bedarfe könnten optional abgedeckt werden. Das Gebäude wird energetisch saniert. Ergänzend müssten die Investoren ein Wohnheim am Standort anbieten, wenn das Kultusministerium eine bisher gelebte und vom Landkreis Goslar (weiterhin) geduldete Praxis der Azubi-Unterbringung in privaten Unterkünften untersagen sollte.
Hereinspaziert: Die Kreispolitik sieht die Zukunft der Zweiradmechatroniker weiterhin in der Sehusa-Stadt. Foto: Heinemann
Was wären die Vorteile dieser Lösung? Die Verwaltung listet den Erhalt des von den Zweiradmechatronikern so geschätzten Seesener Standorts ebenso auf wie eine Beschulung, die am selben, aber bald sanierten Gebäude über die Bühne geht. Die Stadt Seesen käme nicht zu kurz. Und wenn zusätzlich Räumlichkeiten gebraucht werden, gibt es eine hohe Flexibilität. Nachteile des Investorenmodells sind aus Verwaltungssicht die lange Mietdauer, eine gestaffelte Umsetzungszeit mit einer langen Baustellendauer, die nach wie vor dezentrale Unterbringung der Schüler sowie die große Entfernung zum BBS-Hauptsitz in der Goslarer Baßgeige.
Neu denken bei der Organisation
Aber müsste man Entfernungen und Richtungen der Berufsschülerströme nicht ohnehin neu denken? Die SPD-Abgeordnete und frühere Seesener Bürgermeisterkandidatin Andrea Melone kann es nicht verstehen, dass Goslarer Berufsschüler teils bis nach Braunschweig, Hannover und Northeim fahren und sich dort in überfüllte Klassen quetschen müssten. Diese Organisation ist in ihren Augen suboptimal, wenn anderswo Räume leer stünden und der ländliche Raum gestärkt werden könnte: „Die Züge fahren auch in die andere Richtung.“ Und sonst? „Die Seesener per se kleben nicht auf ihrer Scholle“, versicherte sie, „aber das Projekt ist es wert.“
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