Erinnern an Nazi-Opfer: Ingeburg Boeglen wird nur 13 Jahre alt
In der Landesheilanstalt Uchtspringe endet das Leben der 13 Jahre alten Patientin Ingeburg Boeglen. Das Bild zeigt die Vorderseite einer Feldpostkarte. Foto: Privat
Der Verein Spurensuche setzt am 25. Juni sieben weitere Stolpersteine zum Gedenken an Goslarer, die Opfer der Nazis geworden sind. Verein und GZ erinnern an diese Menschen. Dr. Stefan Cramer berichtet über das Schicksal von Ingeburg Boeglen.
Goslar. Ingeburg Sigrid Elisabeth Hermine Boeglen wurde am 1. August 1930 in Goslar in prekäre Verhältnisse geboren – in eine Welt, die sich gerade vom Schock des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise zu erholen suchte. Ihre Mutter, Minna Dora Karoline Anna Böglen (geb. am 23. Juni 1900), war eine unverheiratete Hausangestellte. Vom Vater fehlte anfangs jede Spur. Erst zehn Jahre nach Ingeburgs Geburt wurde ein gewisser Friedrich Riegler, Bankangestellter aus Bretten in Baden, als Vater benannt.
Ingeburg war nicht das einzige Kind ihrer Mutter. Sie hatte zwei ältere Halbgeschwister: Waltraud (geb. 1924) und Frieda (geb. 1927). Alle drei Kinder hatten unterschiedliche Väter. Diese zersplitterte Familienstruktur in Verbindung mit der prekären ökonomischen Lage der Mutter prägte Ingeburgs Kindheit tief. Sie wurde am 30. November 1930 in der evangelischen Kirche St. Jakobi von Pfarrer Kohne getauft. Ihre Taufe bezeugt, dass zumindest in ihren ersten Lebensmonaten jemand versuchte, sie in ein soziales Gefüge einzubinden.INITIATIVE DER SPURENSUCHE VERLEGT STOLPERSTEINE
DER HUNGERKOST-ERLASS
Die Initiative Stolpersteine im Verein Spurensuche Harzregion setzt am 25. Juni sieben weitere Messingtafeln in der Altstadt zum Gedenken an Menschen aus Goslar, die Opfer des verbrecherischen Nazi-Regimes wurden.

Dr. Stefan Cramer Foto: Heine
Für ihren Stolperstein stehen Vorsitzende Ingrid Koch und ihr Vize Reiko Linzer vom Verein der Lebenshilfe Pate. Das Verlegen aller sieben Stolpersteine begleiten in bewährter Manier wie schon vor zwei Jahren Schülerinnen und Schüler der Okeraner Adolf-Grimme-Gesamtschule unter Regie von Sabine Rehse. Sie haben sich in einem Projekt intensiv mit den Biographien der Opfer befasst, wollen deren Namen sichtbar machen und die Vergangenheit ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Frühe Kindheit: Isolation, Ausschluss und erste Diagnosen
Die Jahre ihrer Kindheit sind nur bruchstückhaft dokumentiert. Aus Schulakten wissen wir, dass Ingeburg zwischen 1936 und 1940 die sogenannte „Hilfsschule Goslar“ (die Pestalozzi-Schule) besuchte – eine Einrichtung für Kinder mit „besonderem Förderbedarf“, die damals in einem kleinen Fachwerkhaus neben dem Schwiecheldthaus untergebracht war. Im März 1940 wurde sie jedoch „wegen hochgradiger Auffälligkeiten“ ausgeschult. Da war sie gerade zehn Jahre alt. Die Sprache der Behörden und Institutionen ist hier eindeutig: Ingeburg entsprach nicht der Norm. Sie sprach nur wenige Worte, wiederholte sie mechanisch, konnte sich kaum allein versorgen. Ein ärztlicher Fragebogen von 1942 aus Neuerkerode spricht von „hochgradigem Schwachsinn“, einem „gehemmten Gang“, von der Unfähigkeit, sich in einer Gemeinschaft zurechtzufinden. Diese Zuschreibungen sagen viel über das Kind – aber vielleicht noch mehr über die Gesellschaft, in der sie aufwuchs.
Von Ingeburg Boeglen selbst ist leider keine Aufnahme überliefert. Das Foto, das der Autor des Berichts zur Verfügung gestellt hat, zeigt eine Mädchengruppe in der Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Schönbrunn (Dachau). Foto: Privat
Zwischen Heimen und Hoffnungslosigkeit
Danach wird sie im März 1940 in das katholische „Blum‘sche Waisenhaus“ im niedersächsischen Henneckenrode eingewiesen. Die Bezeichnung „Waisenhaus“ ist insofern irreführend, weil ihre Mutter noch lebte. Allerdings hatte das Jugendamt der Stadt Goslar der Mutter das Sorgerecht entzogen und war nun offiziell der Vormund.
Bereits ein Jahr später – im März 1941 – folgte die nächste Station: das katholische Kinderheim „Klein-Bethlehem“ der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz in Hildesheim. Diese häufigen Ortswechsel deuten auf eine Verwaltungspraxis, die sie als Problemkind von einem Ort zum nächsten verschob.
Das katholische Kinderheim „Klein-Bethlehem“ der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz in Hildesheim – in diesem Fall gemalt von Friedrich Spilker – ist eine Zwischenstation auf dem Leidensweg von Ingeburg Boeglen. Foto: Privat
Eintragungen in Akten berichten von „Tätlichkeiten gegenüber anderen Kindern“, von „Unfähigkeit zur Reinlichkeit“. Ingeburg war kein Kind, das man fördern wollte. Sie war eine „Last“ im System.
Aus dieser Zeit stammt das einzige erhaltene Lebenszeichen von Ingeburg Boeglen, die ungelenke Kinderzeichnung eines großen, zweistöckigen Hauses mit (vergitterten?) Fenstern. Trotz einer umfangreichen Krankenakte aus Uchtspringe gibt es kein Foto von Ingeburg. Ihre sicherlich auch umfangreiche Betreuungsakte im Jugendamt Goslar ist nicht auffindbar.
Erster Krankenhauskontakt und Bürokratie
Am 30. Januar 1942 wird Ingeburg im Alter von nur elf Jahren von den Behörden als „idiotisches Kind unter 16 Jahren“ erfasst – eine Klassifizierung, die im nationalsozialistischen Deutschland bereits den Stempel für den weiteren Lebensweg bedeutete. Ein ärztlicher Bericht vermerkt: „Noch ist sie nicht gemeingefährlich geworden“. Diese Formulierung entlarvt die Angst vor Unkontrollierbarem, dem Bedürfnis nach Kontrolle – und die Nähe zum späteren Konzept des „unwerten Lebens“. Die Bemühung, sie „etwas zur Reinlichkeit und Selbstständigkeit zu erziehen“, wird ebenso erwähnt wie der Hinweis auf die „ungünstigen häuslichen Verhältnisse“ und die „ungeordnete Heimerziehung seit früher Jugend“. Ingeburg wurde nicht nur als krank gesehen – sie war ein „Verwahrfall“, eine ungewollte soziale Hypothek. Damit rückte sie näher an den Rand des Systems – dorthin, wo man begann, Menschen nur noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten.
Neuerkerode – Letzte Station im Fürsorgesystem
Am 25. Juli 1942 wurde Ingeburg in die „Neuerkeröder Anstalten“ eingewiesen, einer kirchlich geführten Einrichtung, die eng mit den nationalsozialistischen Behörden kooperierte. Das Jugendamt Goslar blieb weiterhin ihr Vormund und übernahm die Kosten für die Unterbringung. Die Aufnahmedokumente sind nüchtern, technisch – ohne jede Spur von Fürsorge oder Empathie. Hier wird deutlich, dass sich ihr Status veränderte: Sie war nun vollständig unter staatlicher Verwaltung. Ihr Leben verlief von jetzt an innerhalb der Mauern eines Systems, das sich selbst als humanitär verstand, jedoch zu einem Bestandteil des mörderischen Apparats der NS-„Euthanasie“ geworden war.INITIATIVE DER SPURENSUCHE VERLEGT STOLPERSTEINE
DER HUNGERKOST-ERLASS
Am 30. November 1942 erließ Bayerns Innenministerialdirektor Walter Schultze den sogenannten Hungerkost-Erlass, der nahtlos an die Beendigung der Aktion T4 anknüpfte. Schultze ließ die Verpflegung nicht mehr arbeitsfähiger psychiatrischer Patienten derart reduzieren, dass diese nach kurzer Zeit tödliche Hungerödeme erlitten, was zum Tod tausender Insassen in Bayern führte. Diese Praxis wurde auch in anderen Anstalten im ganzen Reich verübt. Der Erlass diente rückwirkend als offizielle Rechtfertigung für bereits praktizierte Maßnahmen und verschleierte bewusst grausame, planmäßige und systematische Eliminierung von sog. „unwertem Leben“. Bereits im August 1942 hatte der Kaufbeurer Anstaltsdirektor Valentin Faltlhauser arbeitsschwachen Patienten eine fettfreie „Sonderkost“ aufgezwungen. Seine Erfahrungen stellte er am 17. November 1942 bei einer Direktorenkonferenz vor, auf die der Erlass Bezug nahm. Diese Praxis wurde auch in vielen anderen psychiatrischen Anstalten angewendet. Wahrscheinlich war auch Ingeburg Boeglen ein Opfer dieser brutalen, menschenverachten Praxis.
Verlegung nach Uchtspringe und das tödliche Ende
Am 29. November 1943 wurde Ingeburg mit einem kleinen Transport aus Neuerkerode in die Landesheilanstalt Uchtspringe (Altmark) verlegt. Dieser Transport bestand aus neun Personen, von denen acht in rascher Folge starben. Dies war kein medizinischer Zufall. In der Forschung gilt Uchtspringe als ein Ort, an dem systematisch Menschen getötet wurden – im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“. Ingeburg, zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt, war eines der Opfer der dortigen sogenannten „Kinderfachabteilung“. Am 1. April 1944 beginnt sie laut Patientenakte an „Durchfall zu leiden“. Die Berichte werden spärlicher. Eine Eintragung vom 15. April 1944 gibt als Todesursache „Bronchopneumonie“ an – eine Lungenentzündung. Sie stirbt um 11.45 Uhr im Gebäude 20, der „Kinderfachabteilung“. Die Leiterin dieser Abteilung, Dr. Hildegard Wesse, stellt auch die Sterbeurkunde aus.
Die Stimme der Mutter – verzweifelt, zornig, machtlos
Drei Tage nach Ingeburgs Tod erhält ihre Mutter Karoline Bosse (sie hat inzwischen geheiratet) in Goslar ein Telegramm, dass sie vom Tod ihrer Tochter informiert. Sie reist nach Uchtspringe und sieht ihre tote Tochter – allerdings nur das Gesicht. In einem erschütternden Brief vom 21. April 1944 wendet sie sich an die Anstalt Neuerkerode:
„Warum konnte ich meine Tochter nicht ganz sehen? Warum nur das Gesicht u. nicht den ganzen Körper? … ausgerottet brauchte meine Tochter trotzdem nicht zu werden. Was sie ihr nicht beibringen konnten, das konnte ich besser. Hätte aus dem Mädel was tüchtiges gemacht, wenn mich nur das Jugendamt meine Tochter zurück gab.“
Es ist der einzige Moment, in dem in den Akten eine menschliche Regung dokumentiert ist – und sie kommt zu spät. Die Worte der Mutter sind voller Schmerz, Vorwürfe, aber auch einer eigenwilligen Hoffnung: Hätte man ihr die Tochter zurückgegeben, hätte vielleicht alles anders kommen können.
Verwaltungsakte nach dem Tod
Am 5. Mai 1944 teilt Uchtspringe der Mutter schriftlich mit, die Todesursache sei „Lungenentzündung und Grippe“. Am 29. November bittet die Mutter um die Übersendung der Sterbeurkunde, die am 11. Dezember 1944 erhält. Fast genau ein Jahr nach Ingeburgs Tod, am 12. April 1945, wird Uchtspringe von amerikanischen Truppen befreit. Zu spät für Ingeburg.
Nachkriegszeit, Straflosigkeit, Vergessen
1953 wird Dr. Hildegard Wesse, die verantwortliche Ärztin von Ingeburg, wegen der Beteiligung an 30 Tötungen von Frauen zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Doch das Urteil wird nie vollstreckt. Am 27. Dezember 1954 wird das Verfahren wegen Tötung von einer wesentlich größeren Anzahl von Kindern eingestellt – laut Straffreiheitsgesetz. Auch für Ingeburg gibt es keine Gerechtigkeit. Wesse praktizierte noch viele Jahre in Braunschweig als Kinderärztin.
Erinnerung und Mahnung
Ingeburg Boeglen wurde nur 13 Jahre alt. Ihr Leben erzählt nicht nur von einem Kind, das unter schwierigsten Umständen aufwuchs. Es schildert eine Gesellschaft, die ihre Schwächsten nicht schützt. Von Behörden, die Fürsorge versprachen, aber in Wirklichkeit verwalteten, vernachlässigten und – am Ende – vernichteten.
Ingeburg war kein Einzelfall. Zehntausende Kinder mit Behinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten wurden im Dritten Reich systematisch ermordet. Ingeburg war nur eine von ihnen. Keine Täterin, keine Heldin – einfach ein Kind, das nicht ins Raster passte. Ingeburg ist auch ein Beispiel, wie die sogenannnte „dezentrale Euthanasie“, noch lange nach dem offiziellen Ende der „Aktion Gnadentod“, wie der später als T4-Aktion bekannte Massenmord an Patienten genannt wurde.
Noch ein paar wenige Sätze zur Ärztin, die Ingeburgs Sterbeurkunde unterschreibt: Dr. Hildegard Wesse, geborene Irmen (1911–1997), beteiligte sich aktiv an den nationalsozialistischen Krankenmorden. Nach dem Medizinstudium in Köln und Düsseldorf arbeitete sie ab 1938 in Anstalten wie Andernach und Waldniel. Ab 1941 leitete sie in Waldniel (NRW) die Frauen- und später in Uchtspringe die „Kinderfachabteilung“, wo sie mindestens 60 Kindern durch Injektionen den Tod brachte. Für ihren „Eifer“ bei der „Behandlung von Patienten“ wurde sie von der Anstaltsleitung belobigt und erhielt eine Sondergratifikation. Ende 1944 dehnte sie die „Euthanasie“ auf erwachsene Patienten aus und veranlasste den Tod von 30 Frauen.
Wesse wurde nach Kriegsende zunächst inhaftiert, jedoch 1948 aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 2. Dezember 1953 sprach das Landgericht Göttingen sie zwar in Bezug auf die NS-„Kindereuthanasie“ frei, verurteilte sie jedoch wegen Totschlags an 30 Frauen zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung. Dadurch musste Wesse die Strafe nicht im Gefängnis verbüßen und konnte ihre ärztliche Tätigkeit fortsetzen. Sie praktizierte erneut als Ärztin in Braunschweig und betrieb für rund 30 Jahre eine eigene Praxis in der Richterstraße 18 als niedergelassene Kinderärztin. Ihren Lebensabend verbrachte sie ebenfalls in Braunschweig. Dort verstarb sie am 27. Mai 1997.
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